Ansprache in der Laurentiusvesper 2023
Gehalten in der Kirche St. Laurentius, Wuppertal am 11.08.2023

 

Ich darf mich kurz vorstellen: Mein Name ist Reiner Nieswandt. Seit dem Jahr 2019 bin ich Leitender Pfarrer der Katholischen Krankenhausseelsorge im Stadtdekanat Wuppertal. Ich arbeite mit fünf Seelsorgerinnen zusammen; dazu kommen einige evangelische Kolleginnen, mit denen es eine wirklich unkomplizierte ökumenische Zusammenarbeit gibt, sowie einige  ehrenamtlich Engagierte: wir sind täglich da für über 2.460 allein stationäre Patientinnen; dazu tausende Mitarbeiterinnen und zahlreiche Angehörige. 

Dies in der Stadt, die als das festlandeuropäische Manchester und Geburtsort von Friedrich Engels, sowie mit seiner Hängebahn Weltruhm errang; eine Stadt, die nicht von ihrer Vergangenheit lebt und an ihr klebt, sondern nicht nur mit dem Wuppertal-Institut und dem Solar-Decathlon eine spannende und vielverheißende Zukunft vor sich hat. 

Durch den Zuzug von jungen erwachsenen Menschen aus dem außereuropäischen Ausland, etwa aus dem indischen Kerala, von denen viele Christinnen sind, sehe ich ganz aktuell die gleichen Herausforderungen für uns hier vor Ort, wie sie dem Lehrer Johann Gregor Breuer und dem damaligen Kaplan Adolph Kolping vor fast 180 Jahren begegneten, als sie die Betreuung der damaligen Wandergesellen begannen; nur heute auf globalisiertem Niveau. 

Der im April verstorbene langjährige Titularbischof von Partenia in Nordost-Algerien, Jacques Gaillot, hat mal einen wirklich nachhaltigen Satz formuliert: „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.“ In der Tat scheint mir dies der einzige, nicht nur sinnvolle, sondern hilfreiche Ansatz zu sein, der uns einen Weg aus der selbstverschuldeten Kirchenkrise unserer Tage aufzeigt. 

Unterstützung dazu finden wir beim Blick in die Heilige Schrift, die Bibel, und da besonders die Evangelien, die für uns Christinnen der eigentliche Maßstab für unser Leben sein sollten. Unmittelbar vor Beginn der Leidensgeschichte Jesu im Matthäus-Evangelium (Mt 25,31-46) fragen sich die Menschen, die Christus für sein Reich auserwählt hat, wo sie ihm denn begegnet sein könnten. Und die Antwort des HERRN ist ganz einfach: „ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen“ (v. 35-36). 

Der vielfältig leidende Mensch ist das Angesicht unseres HERRN, ein Mensch, der nicht mit frommen Floskeln abgespeist werden darf; hier begegnen wir ganz konkret, real und lebendig unserem HERRN UND GOTT, von dem manche Christinnen behaupten, dass sie IHN vergeblich in dieser Welt suchen, oder – noch schlimmer – den wir aus lauter Angst vor IHM, der unser Herz in Unruhe zu versetzen vermag, in unsere Kirchen einzusperren versuchen, um ihn vermeintlich unter Kontrolle zu bekommen. 

Es ist im Wortsinn Gotteslästerung, wenn wir offen oder insgeheim die Meinung vertreten, leidende Menschen, egal ob als Patientinnen im Krankenhaus, als Geflüchtete oder als Obdachlose, seien an ihrem Schicksal selber schuld; sie seien womöglich gar von Gott verworfen oder seien als nicht-zentraleuropäische Menschen ohnehin minderwertig. In der Krankenhausseelsorge stellen wir immer wieder fest: Armut und psychosoziales Elend stellen ein erhebliches Krankheitsrisiko dar. 

 

Der langjährige brasilianische Erzbischof von Olinda und Recife, Hélder Câmara, dessen Einsatz für die Armen sowie gegen Folter und Militärdiktatur mit einem erzkonservativen Nachfolger „belohnt“ wurde, hat einen weiteren Satz geäußert, an dem ich Sie gerne teilhaben lassen möchte; den gibt es übrigens auch als Lied: „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“ 

Ich möchte Ihnen in den verbleibenden Minuten von meinem Traum von Kirche erzählen, ein Traum, den ich seit Jugendjahren habe und den ich trotz vieler Enttäuschungen nicht ablegen oder verdrängen konnte. Vielleicht kann sich der eine oder die andere darin wiederfinden.  Wahrscheinlich wird es auch Widerspruch geben. Aber entscheidend wird die Frage sein, welche Form von Kirche in dieser Welt wir sein und leben wollen, damit die beste aller Botschaften glaubwürdig zu den Menschen gebracht werden kann, denn dies ist unser Auftrag. Die Menschen unserer Zeit haben Besseres verdient als das, was wir gegenwärtig präsentieren: 

Ich träume von einem vom Heiligen Geist Gottes verursachten und  von Menschen aktiv herbeigeführten Klimawandel in der Kirche; ein Klimawandel, der bewirkt, dass Angst vor Denunziation sowie vermeintlichen Autoritäten endlich ein Ende nimmt; eine Kirche, in der Ämter nicht nach Verwandtschaftsverhältnissen, nützlichen Freundschaften, persönlichem Ehrgeiz und Intrigenspiel, sondern unabhängig von Geschlecht, Lebensstand oder sexueller Orientierung denen verliehen werden, die wahrhaft demütig sind. In der Alten Kirche war es vorbildlich, das Bischofsamt nicht anzustreben; so etwa der Heilige Martin, der sich, wenn auch vergeblich, lieber bei den Gänsen versteckte als sich zum Bischof wählen zu lassen. 

Ich träume von einer Kirche, in der der allgegenwärtige Klerikalismus von Klerikern wie Gläubigen endlich überwunden und in die Mottenkiste einer bösen Vergangenheit verbannt wird; also die Überhöhung des Priesteramtes, von der Papst Franziskus seit Beginn seiner Amtszeit und gerade eben erst erneut immer wieder feststellt, dass diese die Hauptursache für jegliche Form von Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche ist. 

Ich träume von einer Kirche, die nicht als institutionell machtvoller gesellschaftlicher „Player“ ihre Relevanz beweisen muss und mit dieser Sicht vor allem von solchen unterstützt wird, die ebenfalls von Angst vor Relevanzverlust getrieben sind. Stattdessen träume ich von einer Kirche, die den Mut aufbringt, institutionell „abzurüsten“ und sich selbst nach dem Vorbild des HERRN zu deregulieren. In vermutlich fast jeder sozialen Einrichtung und in vielen Betrieben unserer Stadt gibt es zumindest bislang Christinnen, die als „Salz der Erde“ für eine gute, menschenfreundliche und geistvolle Atmosphäre sorgen können. 

Ich träume von einer Kirche, die sich dem in diesen Tagen immer ungenierter auftretenden Ungeist von Faschismus und Rechtsextremismus mutig entgegenstellt, und die die Ehrlichkeit besitzt, zuzugeben, dass es auch in unseren Reihen – besonders bei katholischen sog. „Traditionalisten“ - Sympathisanten der bösen Geister von gestern gibt, die sich nur darin unterscheiden, dass sie sich bislang nicht einigen können, ob sie in die Zeit vor 90, 150 oder 250 Jahren zurückwollen; wahrscheinlicher ist aber wohl die Kombination der genannten Zeitebenen. 

Ich träume von einer Kirche, in der mutige Theologinnen, an den Universitäten ebenso wie in den Akademien und Gemeinden, und gerade nicht im intellektuellen Ghetto, den Austausch mit allen Wissenschaften pflegen sowie offen für deren Erkenntnisse sind;  

Christinnen, die Spuren des befreienden Gottes in unserer Zeit erschließen, und so eine menschenfreundliche Kirche und Verkündigung ermöglichen, die zukunftsfähig wie ein „Sauerteig“ in die Gesellschaft hineinwirken. 

Der heilige Laurentius von Rom, der Stadtpatron von Wuppertal, dessen Todestag wir gestern feiern durften, er hat im Jahr 258 nach Christus die Kirchenschätze an die Armen, Kranken und Benachteiligten seiner Stadt verteilt. Seine Fürsprache bewirke bei uns den Mut, uns von allem Überflüssigen und Hinderlichen zu trennen, damit die Verkündigung der Gegenwart des Reiches Gottes auch in unserer Zeit wieder an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft gewinnt. Dann wird unsere Stadt nicht der Ort sein, an dem Kirche tödlich verletzt „über die Wupper“ geht, sondern wo die Wupper zum hiesigen Jordan wird, zum Hoffnungsstrom des Gottesreiches und des Lebens.