Abschied vom Konsumchristentum
Abschied vom „Konsumchristentum“ – Ein Gedankengang[i]
Annähern
Ein von mir hochgeschätzter Denker, Ivan Illich (+ 2002), hat bereits vor über vierzig Jahren auf die Kehrseiten der modernen Dienstleistungsgesellschaften hingewiesen: Schulen versprechen Bildung, das Transportwesen Mobilität; die Medizin (zusammen mit der Pharmaindustrie) verspricht Gesundheit, soziale Einrichtungen bieten Unterstützung und Hilfe für Benachteiligte. Dieses – für das „christliche Abendland“ signifikante - Phänomen betrifft nicht mehr nur die westlichen Industriegesellschaften in Europa und Nordamerika, sondern ist mittlerweile global fast durchgängig anzutreffen.
Die Kehrseite der Dienstleistungsgesellschaften ist, dass Menschen, die sie in Anspruch nehmen (bzw. nehmen müssen), Gefahr laufen, dadurch entmündigt und in einen Zustand der Passivität gebracht zu werden, mitunter sogar das Gegenteil der in Aussicht gestellten Wirkungen erreicht wird. So sind viele kaum in der Lage, in der Schule das zu lernen, was sie wirklich interessiert oder für das Leben brauchen[ii] oder auf die bewährten (und preiswerten) Überlieferungen der Volksmedizin zurückzugreifen, zumal wenn diese von den Fachleuten diskriminiert werden. Man ist „automobil“ (wörtlich: „selbstbeweglich“), aber steht im Stau; Hilfsbedürftige bleiben ein Leben lang mitsamt ihren Nachkommen Empfänger von Unterstützungsleistungen und können keine Selbstverantwortung entwickeln.
Dienstleistungsgesellschaften versprechen ihren Mitgliedern Leistungen, die auf Dauer nur mit sehr hohem materiellem, finanziellem und personellem Aufwand zu erbringen sind. Immer bleibt noch ein unerfüllter Rest, so dass zum einen die Dienstleister – zumal, wenn sie ihrer Tätigkeit aus vorwiegend ideellen Gründen nachgehen – dauerhaft überfordert sind und auf der anderen Seite die Dienstleistungsempfänger immer wieder aufgrund nicht hinreichender Leistungen enttäuscht werden.
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Ein Gedanke, der mich seit geraumer Zeit beschäftigt, ist: Bereits seit vormoderner Zeit gibt es in der abendländischen Welt mit der katholischen Kirche eine besonders ausgeprägte „Dienstleistungsgesellschaft“. Diese bietet ihren Mitgliedern, insofern sie gläubig sind und sich bereitwillig auf alle Bedingungen einlassen, ein umfassendes Heilsversprechen: „Rundumversorgung“ von der Wiege (Taufe) bis zur Bahre (kirchliche Beisetzung), mit Begleitung und Anleitung bei allen wichtigen Lebensstationen dazwischen. Diese alle Aspekte christlichen Lebens umfassende „Dienstleistungsgesellschaft“ wurde in ihrer Vollgestalt mit dem Tridentinischen Konzil (1545 – 1563) geschaffen und über die folgenden Jahrhunderte weiter perfektioniert; sie wirkt bis in unsere Tage.
Mit dem Tridentinum erst[iii] kam es zur vollständigen Trennung der Aufgabenbereiche von Klerikern und Laien (und zur umfassenden Professionalisierung bei ersteren), von „Dienstleistern“ und „Leistungsempfängern“, von (Heils-) „Produzenten“ und (Heils-) „Konsumenten“, von „Beitragsempfängern“ und „Beitragszahlern“.
Nun, in „postmoderner“ Zeit, funktioniert diese traditionsreiche „Dienstleistungsgesellschaft“ nicht mehr, jedenfalls im deutschsprachigen Raum, auf den ich mich hier beziehe. Trotz meist noch sehr guter materieller wie finanzieller Ausstattung fehlt das Personal, und die, die (noch) da sind, fühlen sich, zumal mit Blick auf die absehbare weitere Entwicklung, häufig allein gelassen und überfordert, sowohl von den Ansprüchen der „Konsumenten“ wie von den ideellen Vorgaben, nach denen man vor Jahren zum religiösen „Spezialisten“ ausgebildet worden ist. Die Gefahr des „Burnout“ ist für jeden gegeben, der nicht versucht, sich in erster Linie selbst schadlos zu halten.
Darum ist es jetzt an der Zeit, sich vom über die Jahrhunderte eingeübten „Konsumchristentum“ zu verabschieden und die soziale Gestalt von Kirche in Deutschland gewissermaßen neu zu erfinden.
Bei einem verkrampft-verzweifelten Festhalten an der bisherigen Form sehe ich Gefahren von zwei Seiten, die sich seit Jahrzehnten unversöhnlich gegenüber stehen und auf ihre spezifische Weise ein nicht nur die materiellen, sondern auch geistlichen Ressourcen gefährdendes „Weiter so“ postulieren:
Die „konservative“ Seite hebt Priester und Bischöfe auf einen Sockel der „Heiligkeit“[iv] und erwartet von den klerikalen „Heilsproduzenten“ der „societas perfecta“ (Robert Bellarmin) vor allem (liturgisch-) sakramentale „Dienstleistungen“ zum „heilig machenden“ „Konsum“; dabei nimmt sie den Trend zur „kleinen Herde“ als vermeintliches „Gesundschrumpfen“ billigend in Kauf.
Die „liberale“ Seite vertritt als „Verbraucherschützer“ die Belange des „Kirchenvolkes“ und fordert die „Modernisierung“ der Kirche im Sinne einer Anpassung an andere zeitgenössische Dienstleister. Sie stellt dabei die (Heils-) „Konsumenten“ über die (Heils-) „Produzenten“ und erwartet als „Beitragszahler“ die ihnen zustehenden und von ihnen gewünschten, nicht nur sakramentalen, sondern auch sozialen Dienstleistungen. Dazu braucht es eine hinreichende personelle Ausstattung, auch mit nichtklerikalem Personal, sowie eine Ausweitung der Zulassungsbedingungen zum Klerus.
Weitergehen
Ein fortgesetztes Verständnis der Kirche als „Dienstleistungsgesellschaft“, egal ob „konservativ“ an der vormodernen „tridentinischen Form“ oder „liberal“ am Erscheinungsbild anderer moderner Dienstleister orientiert, ist nicht mehr zielführend, zumal wenn es sich im fortgesetzten gegenseitigen Kleinkrieg verliert.
Es gilt, einen alternativen Weg zu formulieren, zu dem ich an dieser Stelle einige Ideen („Visionen“) formulieren möchte:
Das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen
Ich finde es erstaunlich, dass es fünfzig Jahre nach dem Ende des II. Vatikanischen Konzils brauchte, um das dort formulierte gemeinsame Priestertum aller Getauften und Gefirmten (Lumen Gentium 10) zu entdecken, aber immerhin ist dies schließlich geschehen und durch das Hirtenwort der Deutschen Bischöfe „Gemeinsam Kirche sein“ (2015) wieder aufgegriffen worden. Vielleicht war dieser Zeitraum notwendig, so wie echte geistliche Prozesse immer etwas länger brauchen, um nicht nur in den Köpfen, sondern mehr noch in den Herzen anzukommen, Wurzeln zu schlagen und schließlich zu wachsen.
Träume von Kirche
Eine Kirche der nächsten Zukunft wird darauf verzichten, ihre Glieder gegenseitig zu überhöhen oder zu erniedrigen. Vielmehr werden sich Kleriker und Laien, kirchliche Angestellte und ehrenamtlich Engagierte, sowie die vielen Suchenden oder passiv Erscheinenden auf Augenhöhe begegnen, um die spezifischen Charismen des/r Anderen zu entdecken. Dies bedeutet den gewiss schmerzlichen Abschied vom „betreuten Christsein“.
Seelsorger/innen in den von ihren Charismen unterschiedenen kirchlichen Berufsgruppen werden nicht mehr (vor-) moderne Dienstleister/innen, sondern wirkliche Diener/innen des Wortes Gottes sein nach dem Vorbild Jesu Christi, das sich aus dem gemeinsamen Lesen der Heiligen Schrift zusammen mit anderen Getauften und Gefirmten erschließt und in der Feier der Eucharistie vergegenwärtigt wird.
Die Diener/innen werden nicht mehr unter einem allgegenwärtigen, geradezu übermächtigen „Müssen“ und „Sollen“ stehen (wie es uns von Herkunft und Ausbildung vielfach vermittelt wurde und zuverlässig in die Überforderung und das Gefühl des Unzureichend-Seins führt), sondern unter dem befreienden „Können“ und „Dürfen“ aus dem Munde des Herrn. Eine der wenigen verbliebenen, dafür umso wichtigeren „Vorschriften“ wird sein, 10% der Arbeitszeit für Neues zu investieren.
Die Professionalität der Seelsorger/innen wird dazu eingesetzt werden, die Getauften und Gefirmten zu ermutigen, die weit verbreitete religiöse Sprachlosigkeit zu überwinden und ihre eigene Glaubenssprache[v] (wieder) zu lernen (Ermöglichungs- und Befähigungspastoral). Getaufte und Gefirmte werden aus ihrem eigenen Charisma suchende Menschen aller Altersgruppen auf den Empfang der Initiationssakramente vorbereiten.
Kirchlich orientierte Nachbarschaftsgruppen („Basisgemeinschaften“, „Hauskirchen“), die sich regelmäßig treffen, miteinander beten und die Heilige Schrift lesen, sich austauschen und für die sozialen wie seelischen Nöte des/r Nächsten achtsam sind, werden an die Stelle des weitgehend verschwundenen katholischen Vereinslebens treten; sie werden von haupt- und ehrenamtlichen Seelsorger/innen als Moderator/innen begleitet und sind untereinander vernetzt. Bei der Suche nach Gruppenleiter/innen wird man mehr als früher auf im Gemeindeleben bislang „unverbrauchte“ Gesichter achten.
Eine katholische Kirche, die sich auf diese Weise vom bislang praktizierten und weitverbreiteten „Konsumchristentum“ verabschiedet, wird nicht mangels alter Möglichkeiten untergehen; sie wird vielmehr zur - auch gesellschaftlichen - Avantgarde eines anderen Miteinanders, dem von Gott eine „herrliche“ Zukunft verheißen ist.
[i] Dieser Text entstand im Advent 2016.[ii] Für mich ist es immer wieder erstaunlich festzustellen, dass z.B. Schüler, die in der Schule ausgesprochen schwach abschneiden, ohne größere Probleme die Führerscheinprüfung bestehen, offensichtlich, weil die Motivation zum Lernen mit unmittelbar nutzbarem Ergebnis hierbei deutlich attraktiver ist.[iii] Noch im Mittelalter gab es bspw. christliche Beerdigungsbruderschaften, die den Dienst der Beisetzung als Akt der Barmherzigkeit vor allem für die Armen vollzogen.[iv] Aber wehe, sie entsprechen nicht deren Vorstellungen![v] Mir scheint, dass viele die religiöse Sprache als Kinder beherrschten, diese aber auf dem Weg ins Jugend- und Erwachsenenalter verloren ging.