Stellungnahmen
Am 16.01.2020 erschien auf katholisch.de eine Stellungnahme von mir, die wesentliche Elemente meines neuen Buches in Kurzform präsentiert:
https://www.katholisch.de/artikel/24237-nur-ein-verzicht-der-kirche-auf-alle-machtstrukturen-wird-heilsam-sein
Brief an den Erzbischof von Köln und seine Mitarbeiter
Sehr geehrter Herr Kardinal,
sehr geehrte Herren Weihbischöfe,
sehr geehrter Herr Generalvikar, sehr geehrte Herren stellvertretende Generalvikare,
die sich seit etwa einem Jahr immer dramatischer entwickelnde Thematik der Missbrauchsaufarbeitung im Erzbistum Köln nehmen wir, die unterzeichnenden Priester des Erzbistums, zum Anlass, uns in aller Dringlichkeit an Sie zu wenden. Uns ist es zur Förderung eines offenen und ehrlichen Miteinanders wichtig, dass wir Ihnen unsere Gedanken und Sorgen mitteilen:
Die Entwicklungen der vergangenen Monate strapazieren unsere Fähigkeit zur gewiss notwendigen dienstlichen Loyalität gegenüber den Spitzen des Erzbistums Köln sehr stark. Egal in welcher spezifischen pastoralen Tätigkeit wir unterwegs sind, wir erfahren: Die Kommunikationsstrategie des Erzbistums Köln im Zusammenhang mit der Nichtveröffentlichung des WSW-Gutachtens führt zu breitem Unverständnis nicht nur bei der Kirche Fernstehenden, sondern insbesondere bei vielen, die der Kirche noch die Treue halten und derzeit nur noch traurig, verzweifelt und entsetzt sind.
Wir befinden uns in einem zunehmenden Loyalitätskonflikt. Wir fühlen uns der Kirche zutiefst verbunden, können uns aber nicht mit dem aktuellen Management der gegenwärtigen Vertrauenskrise in unserem Erzbistum identifizieren. Dies führt zu einer immer stärkeren inneren Distanzierung zur Kirche von Köln, die auch die Vertrauensbasis zur Bistumsleitung nachhaltig berührt. Deutlich wird hier eine sich ausbreitende Atmosphäre des Misstrauens, der Verdächtigung und des resignativen Rückzugs.
Für uns lautet die zentrale Frage: Können wir in den nächsten Jahren verloren gegangene Glaubwürdigkeit wiedergewinnen und wenn ja, wie? Diese Glaubwürdigkeit ist die Basis dafür, dass die Zukunft der Kirche von Köln und damit der pastorale Zukunftsweg gelingen.
Wir nehmen wahr, dass sich immer mehr Gläubige von der Kirche distanzieren. Auch erschwert die aktuelle Lage Kindern und Jugendlichen einen (neuen) Zugang zur Kirche, weil der in kirchlichen und anderen Einrichtungen geleisteten pastoralen Arbeit, mehr noch den dort arbeitenden Seelsorgerinnen und Seelsorgern kein Vertrauen mehr geschenkt wird.
Wir sind nicht bereit, bei dieser Entwicklung still resignierend zuzuschauen. Die Botschaft Jesu ist eine alle Menschen einladende Botschaft; daher darf sich die katholische Kirche hier und woanders nicht – soziologisch betrachtet – zur Sekte entwickeln!
Die derzeit misslingende Missbrauchsaufarbeitung mindert unsere Glaubwürdigkeit in gesellschaftlich relevanten Diskussionen. Ein Ausweg aus dieser Not kann nur in einem wahrhaftigen und transparenten Umgang mit eigenen Fehlern sowie der Erkenntnis strukturellen Versagens in Vergangenheit und Gegenwart bestehen.
Es ist notwendig, den Opfern von sexuellem und geistlichem Missbrauch mit Scham, Demut und tiefem Respekt zu begegnen. Allein schonungslose Transparenz und Aufklärung können dafür sorgen, dass sich so etwas nicht wiederholen kann und wird. Die Übernahme von persönlicher Verantwortung einerseits sowie die Übernahme von systemischer Verantwortung andererseits können wirksame Zeichen der Umkehr und des Neuanfangs setzen.
Tagtäglich versuchen wir – gewiss nicht fehlerfrei – in unseren Arbeitsbereichen, die Botschaft vom Reich Gottes glaubwürdig zu verkünden. Dazu brauchen wir nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Möglichkeit zur loyalen Zusammenarbeit: untereinander, mit Ihnen als Bistumsleitung und mit den Menschen in den uns anvertrauten pastoralen Feldern. Hier erleben wir uns in einem großen inneren Konflikt. Wir möchten dazu beitragen, diesen zu überwinden.
Gerne treten wir mit Ihnen, Herr Erzbischof, und mit Ihren Mitarbeitern in einen ehrlichen Austausch und bitten um ein Gespräch.
In Erwartung Ihrer Antwort grüßen wir Sie mit guten Hoffnungen für das noch junge Jahr 2021,
Pfarrer Dr. Reiner Nieswandt
und 33 weitere Priester des Erzbistums Köln
Zu Gast bei "Radio Kilowatt"
Im März 2020 war ich zu Gast bei "Radio Kilowatt", der kirchlichen Lokalfunkwerkstatt beim Katholischen Bildungswerk Wuppertal. Das aufgezeichnete Gespräch mit dem Moderator Uli Keip wurde am 17. März bei Radio Wuppertal 107,4 ausgestrahlt. Seit kurzem ist es auch auf youtube eingestellt:
https://www.youtube.com/watch?v=KKkp_v4o3Lw
Am 13.06.2020 erschien auf katholisch.de ein Interview mit mir zum Thema:
"Seelsorge in Corona-Zeiten"
https://www.katholisch.de/artikel/25731-krankenhausseelsorge-waehrend-corona-wir-konnten-unsere-arbeit-tun
Der „neue Antisemitismus“ und die katholische Gleichgültigkeit
Der „neue Antisemitismus“ und die katholische Gleichgültigkeit
Verfasst im Februar/März 2020
“Ein Antisemit ist jemand, der die Juden noch mehr hasst, als es unbedingt notwendig ist.“ (Isaiah Berlin)
Momentaufnahmen
Ich beginne mit der Niederschrift meiner Überlegungen am Ende des Karnevals 2020. Gestern wurde in den Medien berichtet, dass es beim (bereits sehr alten) Karnevalsumzug im belgischen Aalst offensichtlich und zum wiederholten Male antisemitische Darstellungen gab (als orthodoxe Juden mit Schläfenlocken Verkleidete und einer aus Goldbarren errichteten „Klagemauer“, Teilnehmer/innen in Nazi-ähnlichen Uniformierungen, Darstellung von jüdischen Menschen als Insekten). Der Aufschrei in der politischen Welt, den Medien und vonseiten der jüdischen Gemeinden ist groß, die Reaktion vor Ort - gelinde gesagt - ignorant. Der Bürgermeister von der separatistisch orientierten national-konservativen „Neu-Flämischen Allianz“ relativierte die Situation, indem er feststellte, dass man sich schließlich auch über viele andere – das Königshaus, Brexit und andere Religionen – ebenfalls lustig mache.
Es ist in meinem beruflichen Umfeld wenige Jahre her, dass ich mich von einem Mitarbeiter trennte. Der unmittelbare Anlass war, dass er zum wiederholten Male und diesmal für die Feier des Letzten Abendmahls am Gründonnerstag den siebenarmigen Leuchter aus dem Altarraum entfernen ließ, mit der Begründung, dieser sei mit Wachs bekleckert. Anderen Mitarbeiter/innen gegenüber hatte er mehrfach geäußert, ein siebenarmiger Leuchter gehöre nicht in eine katholische Kirche; mir gegenüber meinte er, als ich ihn ansprach, er hätte „kein Problem mit Juden“.
Eine Initiative von mir, einen gerade mal zwanzig Jahre alten Agnes-Miegel-Weg in einem Neubaugebiet meines Wohnorts, wo alle Straßen nach berühmten deutschen Dichterinnen benannt wurden (die wichtigste Straße ist der Else-Lasker-Schüler-Ring!), umzubenennen, wurde vom örtlichen PGR als unwichtig abgetan. Agnes Miegel (+ 1964) war unter den Nationalsozialisten und auch später noch hoch angesehen und distanzierte sich auch nach 1945 nicht vom Regime, wohingegen die Wuppertalerin Else Lasker-Schüler noch vor Kriegsende 1945 als Emigrantin in Jerusalem verstarb. Gleiches gilt bspw. für den dezidiert antisemitischen Komponisten und Schriftsteller Hans Pfitzner (+ 1949), nach dem weiterhin zahlreiche Straßen in Deutschland, auch in meinem Heimatort, benannt sind.
Zum Jom Kippur 5780 (= 9. Oktober 2019) gab es einen antisemitisch motivierten Schusswaffenangriff auf die Gottesdienstgemeinde in der Synagoge zu Halle (Saale), der nur an der gut gesicherten Eingangstür scheiterte, woraufhin der (deutsche) Täter zwei willkürlich ausgesuchte Personen auf der Straße tötete und drei weitere verletzte. In der Vernehmung bezeichnete sich der sozial isolierte und beruflich gescheiterte junge Mann ausdrücklich als Antisemit, aber nicht als Neonazi.
Eine aktuelle Studie zur Wählerschaft der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) zeigt, dass eine Mehrheit ihrer Anhänger, von denen die meisten bis zur Gründung der Partei 2013 CDU- oder SPD-Wähler/innen waren, eine konstant antisemitische, ausländer- und islamfeindliche sowie antidemokratische Haltung besitzt. Mit Wählern der politischen Linken gemeinsam haben AfD-Wähler/innen die überdurchschnittliche Offenheit für Verschwörungstheorien.
Erscheinungsformen des „neuen“ Antisemitismus
In diesem Zusammenhang ist es nicht notwendig, in die theoretische Diskussion einzusteigen, inwiefern es einen „neuen“ oder vielleicht „nur“ fortgeschriebenen, kontinuierlichen Antisemitismus gibt („Neuer Antisemitismus?“; Benz, 12). Allerdings lässt sich m.E. nicht leugnen, dass früher hinter „vorgehaltener Hand“ geäußerte Haltungen zunehmend „offen“, im Wortsinne „unverschämter“ ausgesprochen werden, vielleicht mit Ausnahme der Holocaustleugnung, die in Deutschland strafrechtlich verfolgt wird (§130 III, StGB). Ebenso wenig zu leugnen ist, dass jüdische Menschen zunehmend dazu neigen, ihre Religionszugehörigkeit, etwa durch das Tragen der Kippa, im öffentlichen Raum zu verstecken, um Anfeindungen zu entgehen. Bis zum Aufkommen populistischer Parteien auch bei uns war es die klare Haltung der sozialen Eliten in Politik, Kirchen und Medien, dass Antisemitismus in Deutschland keine Chance mehr erhalten darf, auch wenn der gesellschaftliche Konsens durch einzelne Politiker/innen, etwa Jürgen Möllemann (FDP, äußerte sich immer mal wieder grenzverletzend bis zu seinem möglichen Suizid 2003, hinter dem manche bis heute den israelischen Geheimdienst Mossad vermuten) oder Martin Hohmann (CDU, im Jahr 2003; seit 2016 in der AfD), bewusst in Frage gestellt wurde (Benz, 155 – 167).
In der Antisemitismusforschung unumstritten ist, dass es neben dem weiteren Fortbestand ältester Formen des Antisemitismus Denkmuster jüngerer Art gibt, die scheinbar wie neu wirken, aber immer auf den älteren Formen aufbauen, die damit gewissermaßen das Fundament bilden.
Der erst im 19. Jahrhundert aufkommende Begriff „Antisemitismus“ wollte sich gezielt und mit „wissenschaftlichem“ Anspruch von der eher „gefühlten“, religiös motivierten Judenfeindschaft breiter Kreise und früherer Jahrhunderte absetzen (Bergmann, 6). Dazu verhalf der „rassistisch“ begründete Antisemitismus; dieser konnte sich nebst anderen auf die Lehren des „deutschen Darwin“ Ernst Haeckel (+ 1919) berufen, dass es auch beim Menschen unterschiedliche „Rassen“ mit besseren bzw. schlechteren Qualitäten gäbe. Die 112. Jahrestagung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft in Jena 2019 hat sich in ihrer „Jenaer Erklärung“ eindeutig vom menschenbezogenen Rassenbegriff distanziert (s. unten).
- Unausrottbar scheint bis heute die älteste Ausdrucksform des Antisemitismus, der (christlich) religiöse: „Die Juden haben Christus gekreuzigt und haben als göttliche Strafe ihr Land und ihren Tempel verloren; darum sind sie Christenhasser, die Christenkinder entführen und deren Blut zu Mazzen verarbeiten.“ (Spät-) Mittelalterliche Ritualmordlegenden, etwa die des Anderl von Rinn (Benz, 22-25) oder des Werner von Bacharach (Benz, 19), die über Jahrhunderte als christliche Märtyrer eine sehr verbreitete Verehrung erhielten, wurden nach dem II. Vatikanischen Konzil von den örtlich zuständigen Bischöfen oft nur mühsam unterdrückt. Tatsächlich wurden diese Jungen/Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer von Sexualmorden, die dann „den Juden“ in die Schuhe geschoben wurden. So konnte man die Verdeckung eines furchtbaren Verbrechens, infolge dessen es auch zu gewalttätigen Übergriffen auf die regionalen jüdischen Gemeinden kam, noch mit einer lukrativen Wallfahrt kombinieren.
- Bis heute gibt es, zumindest verdeckt, rassistischen Antisemitismus: „Die Juden sind eine minderwertige, alle anderen verunreinigende und destruktive Rasse, die das Ziel hat, die edleren Völker (etwa das deutsche) und deren Werte (Familien-, Ehe-, Geschlechterverständnis) zu untergraben und zu zerstören.“ Ähnlich wird bzgl. afrikanischer oder asiatischer Migrant/innen argumentiert, die dann das „jüdische Zerstörungswerk“ im deutschen Volk als „nützliche Idioten des Weltjudentums“ fortsetzen („Umvolkung“, ein Begriff, der etwa von B. Höcke benutzt wird).
Weiter gibt es eine Vielfalt von Ausdrucksformen des Antisemitismus, die im Alltagsleben, auch von Katholik/innen, vielleicht mehr Gewicht besitzen:
- Wirtschaftlicher und medialer Antisemitismus: „Die Juden kontrollieren die Weltwirtschaft/Finanzwelt sowie die wichtigsten Medien.“
- Schuldabwehr- und Verdrängungs-Antisemitismus: „Was habe ich als Nachgeborene/r mit der Geschichte des Dritten Reichs zu tun?“
- Verständnis für antijüdischen bzw. antiisraelischen Terrorismus: „Die Juden/Israelis sind als eigentliche Aggressoren in Nahost dafür verantwortlich und provozieren als militärische Überlegene terroristische Handlungen.“
- Geschichtlicher Relativismus mit Täter-Opfer-Umkehr: „Auch andere Völker haben Kriegsverbrechen und Völkermorde begangen. Deutschland kämpfte 1941 - 45 auf dem Gebiet der Sowjetunion gegen den gottlosen Bolschewismus; unter den Kommunisten gab es viele Juden. Die Juden waren nicht die einzigen Opfer. Wir (meine Familie, meine Heimat, mein Land) waren selber Opfer. Die Opfer des Kommunismus und der Abtreibung sind mindestens genauso schlimm wie die des Holocaust.“ Oder auch die „Vogelschiss“-Äußerung von A. Gauland (02.06.2018).
- Seit Gründung des Staates Israel Antizionismus bei „Rechten“ und „Linken“ (Benz, 179 - 185) sowie nicht selten überzogene „Israelkritik“ im gesamten politischen Spektrum, die den Staat Israel als solchen infrage stellt und sich nicht etwa auf berechtigte Kritik an konkreter israelischer Regierungspolitik beschränkt (Benz, 186 - 196; s. auch die Anmerkungen unten): „Die Juden/Israelis handeln den Palästinensern gegenüber genauso schlimm wie damals die Nazis gegenüber den Juden.“ (Im übrigen eine indirekte ungewollte Anerkennung des Holocaust!)
- Durch die Einwanderung aus islamisch geprägten Ländern nach Europa verstärkt gibt es auch bei uns (ebenso wie in vielen Ländern Westeuropas) wachsenden Antisemitismus bei Muslimen (Benz, 197 - 210), oft im Verbund mit der antiimperialistischen „Linken“, gelegentlich sogar in Koalition mit islamfeindlichen „Rechten“. Dies ist insofern bemerkenswert, da der moderne Antisemitismus mit dem europäischen Imperialismus im 19. Jahrhundert in die islamischen Länder gelangte, sich dort mit den traditionellen religiösen (islamischen, aber auch christlichen) Formen der Judenfeindlichkeit verband und seit Beginn des Konflikts mit dem Zionismus und der Migration aus Nordafrika und Nahost wieder nach Europa zurückgelangt. Die Utopie, der Linke wie Rechte anhangen, ist, dass es geradezu paradiesische Zustände in der Region wie in der ganzen Welt geben könnte, wenn der Nahostkonflikt durch Auflösung/Zerstörung des Staates Israel, der gegründet wurde, um Juden vor antisemitischer Gewalt zu schützen (Nieswandt I, 32-35), gelöst wäre. Das Rassismus-Konzept der politischen „Rechten“ sieht dafür ein gut voneinander getrenntes „Nebeneinander“ räumlicher wie kulturell-religiöser Art der Völker vor („Ethnopluralismus“; ein Euphemismus), wobei wiederum ungeklärt bliebe, wo konkret jüdische Menschen nach dem Ende des Staates Israel (oder auch Sinti und Roma und andere „zerstreute“ Völker und Gemeinschaften) dann noch leben könnten.
Was ist Antisemitismus?
Ein Definitionsversuch: Antisemitismus ist seit seinem Aufkommen im 19. Jahrhundert (als Nachfolger des vorwiegend religiös motivierten Antijudaismus) eine emotionalisierte, von rationalen Gesichtspunkten befreite und von Unter- wie Überlegenheitsgefühlen sowie (bei Angehörigen der Unter- und Mittelklassen) von Abstiegsängsten getriebene gruppenbezogene Feindseligkeit von Menschen, die sich als Opfer der gesellschaftlichen Entwicklung sehen und in jüdischen Menschen bzw. in einer „Weltverschwörung jüdischer Eliten“, die alle anderen Menschen und Nationen versklaven wollen, die Ursache für ihr Unwohlsein erkennen wollen. Antisemitismus liefert eine willkommene Basis für Verschwörungstheorien, die in den letzten Jahren möglicherweise vermehrt auftreten, zumindest aber durch das Internet und die neuen Medien bessere Verbreitungsmöglichkeiten erhalten.
Mit dem Antisemitismus untrennbar verbunden ist eine skeptisch bis ablehnende Haltung gegenüber zentralen Errungenschaften der Moderne: Menschenrechte, Demokratie, Liberalismus, Geschlechtergerechtigkeit (Emanzipation der Frauen), freie Marktwirtschaft (bis 1990 auch Sozialismus in Osteuropa), Globalisierung. Dies alles sind Themen, für die man häufig „das Judentum“ negativ mitverantwortlich macht, zumindest insofern man nicht selber von Einzelaspekten profitiert. Idealisiert wird eine Vergangenheit, in der es die heutigen Probleme noch nicht in dem Ausmaß gab (z.B. das Westdeutschland der 60er Jahre) und leugnet die Notwendigkeit von Maßnahmen, die den Lebensstil Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich verändern würden. Stattdessen fühlt man sich von fremd anmutenden Lebensweisen (z.B. Kopftücher bei Frauen, Bärte junger Männer) bedroht und fordert Integration als Orientierung an der „deutschen Leitkultur“. Dies zeigen die heftigen Reaktionen sowohl auf die Aufnahme von Flüchtlingen wie die endlich als notwendig erkannte andere Lebensweise durch den von Menschen verursachten Klimawandel, ebenfalls Themenfelder, von denen manche meinen, diese seien durch „dunkle Mächte“ gesteuert, zum Zwecke der Unterdrückung, Ausbeutung und Vernichtung des „deutschen Volkes“. Insofern kann man Antisemitismus als Ausdrucksform einer „halbierten Moderne“ bezeichnen.
Die kirchliche Situation
Spätestens seit dem II. Vatikanischen Konzil haben wir in der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum - Deutschland, Österreich mit seiner speziellen Verdrängungsproblematik (Bergmann, 122f.) und auch die Schweiz (Benz 167 - 177) - eine geradezu zwiespältige Situation:
Auf der einen Seite das kirchliche Lehramt mit seinen eindeutigen Positionierungen gegen den Antisemitismus; dazu z.B. in den Jüdisch-Christlichen Gesellschaften, der „Aktion Sühnezeichen“ und ähnlichen Gruppen engagierte Christ/innen, gelegentlich in Verbindung mit einer übertriebenen Form von „Philosemitismus“ (kritisch dazu Benz, 242).
Auf der anderen Seite eine politisch nach wie vor gemäßigte, bei Wahlen mehrheitlich weiterhin zur CDU/CSU tendierende „schweigende Mehrheit“ der Katholik/innen, die ich gerade wegen ihrer häufigen Sprachlosigkeit und umgekehrt der vorsätzlichen, beständigen Verletzung von bisherigen Sprachtabus durch antisemitische Populisten für potenziell gefährdet halte, judenfeindliche Meinungen zu übernehmen, bis hin zu den ultrakonservativen Milieus, die m.E. aufgrund ihrer Nähe zur politischen Rechten stark gefährdet sind, sich auch antisemitisch zu positionieren. Bei der Bundestagswahl 2017 haben etwa 9% der Katholik/innen die AfD gewählt, bei 12,6% für die AfD im Gesamtergebnis.
Die ganze Bandbreite der von mir beschriebenen Haltungen ist auch beim „niederen“ wie „höheren“ Klerus zu finden.
Nach meiner Wahrnehmung gibt es beim Antisemitismus keine klar zu ziehenden Grenzen, sondern häufig Überschneidungen, unterschiedliche Schwerpunkte, Widersprüchlichkeiten und biographisch bedingte Wanderbewegungen im gesamten Spektrum. So mögen etwa Katholik/innen mit ultrakonservativer Einstellung persönlich nicht antisemitisch und politisch vielleicht „pro-israelisch“ eingestellt sein. Trotzdem tendieren sie zu Gruppierungen, in denen antisemitische Positionen und Denkmuster eher greifen können und tatsächlich vertreten werden.
Das kirchliche Lehramt
Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust (Die Rolle etwa von Papst Pius XII. während dieser Zeit, insbesondere sein öffentliches Schweigen, sind seit Jahrzehnten Gegenstand heftiger Kontroversen; vielleicht wird das Bild des damaligen Papstes durch die Öffnung der Vatikanischen Geheimarchive klarer werden.) befürwortete der Heilige Stuhl 1947 gemäß dem ersten UNO-Teilungsplan die Gründung zweier Staaten, eines jüdischen und eines arabischen, im zu Ende gehenden britischen Palästinamandat, bei internationalem Status für Jerusalem und Bethlehem. Insgesamt entwickelte sich die Haltung des Vatikans gegenüber dem Staat Israel auf politischer Ebene von anfänglich kritischer Distanz (insbesondere wegen des palästinensischen Flüchtlingsproblems und der sozialistischen Einstellung der Gründerväter Israels; umgekehrt sah man arabisch-islamische Staaten als potenzielle Verbündete im Kampf gegen den Kommunismus) zu freundschaftlichen Beziehungen in unseren Tagen, wobei eine friedliche und gerechte Lösung des Konflikts (wie der Konflikte in der gesamten Region) im Vordergrund der diplomatischen Bemühungen steht. Diese Entwicklung ist insbesondere dem Pontifikat Papst Johannes Paul II. zu verdanken (Nieswandt I, 91 - 94).
Das II. Vatikanische Konzil stellt einen Höhepunkt in der Neubestimmung des Verhältnisses der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen dar. Insbesondere die Erklärung Nostra Aetate (s. unten) wird bis heute von ultrakonservativen Katholik/innen bekämpft, ebenso wie Treffen der Päpste seit Johannes Paul II. mit Vertreter/innen anderer Religionen als Versuchung zum Götzendienst und Synkretismus abgelehnt werden. Der letzte Vorfall in dieser Richtung war der Diebstahl von Pachamama-Figuren aus einer römischen Kirche, die anschließend in den Tiber geworfen wurden, durch einen österreichischen ultrakonservativen Katholiken, der dafür viel Zustimmung aus seinen Kreisen erhielt.
Erzbischof Marcel Lefebvre (+ 1991), Anführer der katholischen Traditionalisten und selber Vertreter antisemitischer Einstellungen, war ein vehementer Gegner der Erklärung Nostra Aetate. 1988 wurde er von Papst Johannes Paul II. exkommuniziert, als er verbotene Bischofsweihen vornahm, unter anderem bei Richard Williams, der als notorischer Holocaustleugner bekannt wurde und damit Papst Benedikt XVI. 2009 in Erklärungsnöte brachte, als dieser die Exkommunikation für die von Lefebvre geweihten Bischöfe zurücknahm. Vor vier Jahren warnte der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück (DLF 11.07.2016) Papst Franziskus ausdrücklich davor, die fundamentalistisch-antisemitischen Piusbrüder ohne deren Anerkennung von Nostra Aetate in den Schoß der Kirche zurückzuholen.
Die Auseinandersetzungen um die Interpretation und die notwendig aus den Errungenschaften des II. Vaticanums zu ziehenden Schlussfolgerungen haben sich in den vergangenen Jahren zu einem regelrechten innerkirchlichen Kulturkampf entwickelt. Den Befürworter/innen von Veränderungen (z.B. mit dem „Synodalen Weg“ in Deutschland) wird Zeitgeistigkeit, Liberalismus und Protestantisierung der Kirche vorgeworfen, wohingegen vor allem die Ultrakonservativen am liebsten in die Zeit vor das Konzil zurückmöchten, als die Kirche noch nicht den „Versuchungen der Moderne“ erlegen war. Mancher Kirchenvertreter, etwa Kardinal Gerhard Ludwig Müller, erkennt aktuell eine „Verschwörung der Welteliten“ gegen die Katholische Kirche zum Zwecke der Schaffung einer Einheitsreligion und deren Auftreten als neue „Herrenrasse“ (Domradio, 22.11.2019).
Festgehalten werden muss, dass die kirchlichen Dokumente seit dem II. Vatikanischen Konzil bzgl. des Antisemitismus nichts an Eindeutigkeit zu wünschen übriglassen. Dies gilt auch für katholische Bischöfe, die sich nicht scheuen, Synagogen zu besuchen, zu den jüdischen Feiertagen Grußworte zu senden und sich bei Gewalttaten gegen jüdische Menschen eindeutig gegen Antisemitismus zu positionieren.
Eine Expertise von Matthias Blum aus dem Jahr 2011 „Katholische Kirche und Antisemitismus“ (Blum) für den Expertenkreis Antisemitismus beim Bundesministerium des Innern weist darauf hin, dass der Katechismus der Katholischen Kirche im Vergleich zu den eindeutigen Konzilsdokumenten defizitär sei (Blum, 6); das gleiche gelte für das im liturgischen Gebrauch nach wie vor beliebte, auf Thomas von Aquin zurückgehende und im Gotteslob befindliche Lied „Tantum ergo“, mit seiner lateinischen Textzeile „et antiquum documentum novo cedat ritui; der Alte Bund möge dem Neuen weichen“ (Blum, 7). Da auch Katholik/innen in der lateinischen Sprache nicht mehr unbedingt versiert sind, mag dies verzeihbar sein. Immerhin kommt die zu beanstandende Formulierung in der gebräuchlichen deutschen Textfassung von Friedrich Dörr (1970) nicht mehr vor; wohl aber eine originalgetreue deutsche Übersetzung z.B. im alten Kölner Gotteslob (GL 937; nicht mehr im neuen Gotteslob seit 2013). In der gleichen Studie wird positiv festgestellt, dass die Religionsbücher für den Schulunterricht das Thema „Judentum“ bis auf kleinere Ausnahmen korrekt darstellen, aber das Judentum und damit der Wissenserwerb über das Leben jüdischer Menschen im katholischen Religionsunterricht aufgrund anderer Schwerpunktsetzungen immer mehr an Aufmerksamkeit verliere.
„Die Katholik/innen“
Ronald Stephen Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, zitierte in einer Rede anlässlich des diesjährigen Holcaustgedenktages am 27.01.2020 einen Satz, den Elie Wiesel bei einem gemeinsamen Rundgang durch Auschwitz zu ihm sprach: „Elie sagte: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.“ Gleichgültigkeit ermöglichte Auschwitz.“ (FAZ 27.01.2020)
Wie zur Bestätigung und mit ähnlichen Worten beklagte Papst Franziskus bereits zwei Jahre zuvor anlässlich einer 2018 in Rom stattfindenden Konferenz gegen Antisemitismus eine weitverbreitete Gleichgültigkeit von Katholik/innen gegenüber Antisemitismus; dabei zitierte er aus Nostra Aetate (katholisch.de 29.01.2018).
Ursachen von Gleichgültigkeit
Mein Eindruck ist, dass die als Gleichgültigkeit wahrgenommene Haltung der „schweigenden Mehrheit“ deutschsprachiger Katholik/innen gegenüber dem Antisemitismus auf einer tiefsitzenden Scham über Deutschlands Schuld am 2. Weltkrieg und dem Holocaust beruht, ggf. auch durch familiäre Verwicklungen. Keinesfalls will man sich mit (Radau-) Antisemiten verbünden, von denen nicht wenige generell antireligiös eingestellt sind; aber zu einer umgekehrten Solidarisierung mit den Opfern von rassistischer und antisemitischer Gewalt unserer Tage kommt es nach meiner Wahrnehmung nur von wenigen und dann auch nicht deutlich genug. Bei aller Angst vor einer möglichen „Wiederholung der Geschichte“ verhält man sich lieber neutral, um selbst nicht hineingezogen zu werden und sich und die eigenen Angehörigen damit womöglich selbst zu gefährden. Dass man damit genauso eine Haltung des Wegschauens praktiziert, die man der Erwachsenengeneration der 30er Jahre vorwirft, ist anscheinend kaum bewusst oder wird in Kauf genommen.
Eine zusätzliche Problematik bis in unsere Gemeinden hinein ergibt sich nach meiner Wahrnehmung durch die Zuwanderung ost- und südeuropäischer Katholik/innen, die – ähnlich wie andere Migrant/innen - der Auffassung sind, dass sie mit diesem „deutschen“ Thema nichts zu tun hätten. Dass insbesondere aus Osteuropa weiterhin ein traditioneller (christlicher) Antisemitismus zu uns gelangt, wird bislang noch geflissentlich ignoriert; der Hinweis auf Kollaboration mit den deutschen Besatzern im Holocaust darf in einigen europäischen Nachbarländern nicht erfolgen.
Antisemitische Haltungen in der deutschen Bevölkerung liegen nach Untersuchungen konstant bei bis zu 20% (Benz, 12). Damit kommen auf einen jüdischen Menschen grob geschätzt 100 Antisemit/innen. Eine Aufschlüsselung nach Bekenntnissen (ohne die muslimischen Mitbürger/innen) ergibt keine signifikanten Unterschiede. Wohl aber gilt: Sehr religiöse Menschen sind stärker von antisemitischen Einstellungen geprägt, vielleicht in Unkenntnis der kirchlichen Lehren, nach meiner Vermutung sogar in bewusster Ignoranz diesen gegenüber (Blum, 18,21 und 22; vollständiges Zitat s.u.).
Theologische Aspekte
Fortlebender Marcionismus
Eine der ersten Irrlehren/Häresien, die von der Kirche als solche benannt und trotz ihrer Unterdrückung gewissermaßen subcutan bis heute weiterlebt, ist der sogenannte Marcionismus, benannt nach Marcion, ein im 2. Jahrhundert sehr einflussreicher Gelehrter, der auch in Rom lebte; dieser vertrat die Auffassung, der die Menschen erlösende Gott des Neuen Testaments (offenbart von einem vom Himmel erschienenen Christus) sei nicht identisch mit dem (als böse bezeichneten) Gott des Alten Testaments. Nach heutiger Quellenlage wurden von Marcion aus der Bibel nur die Paulusbriefe und ein Teil des Lukas-Evangeliums, das bei ihm erst mit der öffentlichen Tätigkeit Jesu beginnt, akzeptiert.
Im 20. Jahrhundert unternahm der bedeutende protestantische Theologe Adolf von Harnack (+ 1930) den Versuch, Marcion zu rehabilitieren; dieser habe versucht, das Christentum aus seiner Bindung an das Judentum zu befreien. Der evangelische Berliner systematische Theologe Notger Slenczka sorgte 2015 für eine heftige Kontroverse, als er postulierte, das Alte Testament solle den Juden überlassen bleiben; es habe für die Praxis der evangelischen Kirche ohnehin keine besondere Bedeutung. Mehrere (auch katholische) Theolog/innen widersprachen dieser Haltung heftig und warfen Slenczka teilweise theologischen Antijudaismus vor.
In der nachkonziliaren katholischen Theologie steht die Einheit der beiden Testamente und das mit dem Judentum gemeinsame „Alte Testament“ (bzw. die „Hebräische Bibel“ oder das „Erste Testament“) völlig außer Frage. Jan- Heiner Tück (NZZ 21.06.2015) bezieht sich in seiner Stellungnahme zum einen auf den katholischen Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger: „Slenczka bemühe ein Erklärungsmodell, welches das Judentum als Mutter-, das Christentum aber als Tochterreligion begreife. Dieses Modell sei in der neueren Forschung weithin aufgegeben worden. Heute begreife man das Alte Testament als das Textkorpus des einen Gottesvolkes. In der Auslegungsgemeinschaft dieses Gottesvolkes sei es mit dem Auftreten Jesu zu einem Interpretationskonflikt gekommen.“
Zum anderen zitiert er den damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, der 1998 vor einem Wiederaufflackern der markionitischen Versuchung warnte:
„Wenn das Alte Testament nicht von Christus spricht, dann ist es keine Bibel für den Christen. Harnack hatte daraus bereits die Schlussfolgerung gezogen, dass es nun endlich an der Zeit sei, den Schritt Markions zu vollziehen und das Christentum vom Alten Testament zu trennen. Das würde indes die christliche Identität auflösen, die eben auf der Einheit der Testamente ruht. Es würde zugleich die innere Verwandtschaft auflösen, die uns mit Israel verbindet, und alsbald die Konsequenzen wieder hervorbringen, die Markion formuliert hatte: Der Gott Israels würde als ein fremder Gott erscheinen, der sicher nicht der Gott der Christen ist.“
Selbst wenn den meisten Katholik/innen die Lehren des Marcionismus unbekannt sein mögen, so scheint er doch wenigstens auf einer gefühlsmäßigen Ebene bei vielen „angekommen“ und verinnerlicht zu sein. Daher erkenne ich in einer der ältesten kirchlichen Irrlehren, die bis heute weiterwirkt, eine entscheidende Grundlage für religiösen/“christlichen“ Antisemitismus.
Gegenmaßnahmen/Heilmittel: Wie dem „neuen“ Antisemitismus begegnen?
Da bietet sich zum einen und vielleicht am wichtigsten die kirchliche Liturgie selber an: Besonders die geprägten Zeiten im Jahreslauf, der Advent bis Weihnachten und die Feier der österlichen Tage von Palmsonntag bis Ostersonntag bringen uns unseren Geschwistern im Glauben, den jüdischen Menschen, nahe. In meiner Gemeindepraxis habe ich immer darauf geachtet, dass in den Kirchen meines Verantwortungsbereichs ein siebenarmiger Leuchter steht, der auch zu benutzen und keinesfalls wegzuräumen ist. Im Advent war es mir wichtig, eine Wurzel (Hinweis auf die „Wurzel Isais“) mit den Adventskerzen aufzustellen anstelle des germanisch-heidnischen Adventskranzes. Gerne spreche ich, wenn es zur Gabenbereitung keine Musik gibt, die Gebete über Brot und Wein („Gepriesen seist du, Herr, unser Gott…“), die ihren Ursprung in der jüdischen Liturgie haben, laut aus. Ebenso nehme ich bevorzugt die alttestamentlichen Lesungen der Sonntagsmessen und predige häufig zu Lesung und Evangelium. Dies sind alles schöne und sinnvolle Praktiken, ohne – wie manche protestantische Sekten – zu „judaisieren“. Deswegen sind auch Hinweise auf die jüdischen Feiertage im Jahr keinesfalls deplatziert.
Nüchtern müssen wir feststellen: eine „jüdisch-christliche Symbiose“ hat es nie gegeben, ebenso wenig wie ein „jüdisch-christliches Abendland“ (Benz, 242). Eine solche Rede dient lediglich der Ausgrenzung von Menschen, die man ohnehin nicht bei uns haben möchte. Vielmehr ist es für uns Deutsche, aber auch für alle, die mit einer Migrationsgeschichte in Deutschland leben (wollen/müssen), wichtig, dass wir uns weiterhin von der Geschichte des Antisemitismus und der Judenverfolgung/-ermordung berühren lassen, damit aus berechtigter Scham über die Vergangenheit Verantwortung für Gegenwart und Zukunft übernommen wird. Darum sind Israel-Besuche mit Kontakten zu einer möglichst großen Bandbreite der im Land lebenden Menschen und Besuche von ehemaligen Konzentrationslagern (die Vernichtungslager für die europäischen Juden befinden sich überwiegend in Polen) ebenso unverzichtbar wie das Gedenken an unseren jeweiligen Wohnorten. Denn eigentlich besitzt fast jeder Ort in Deutschland ein eigenes Holocaust-Mahnmal. Darum ist auch die Pflege der „Stolpersteine“ ein kleines, aber wirkungsvolles öffentliches Zeichen.
Ebenso wichtig scheint mir, dass das gemeinsame Gedenken des Holocaust nicht den Charakter eines künstlichen „Betroffenheits-Rituals“ bekommt, das dann wiederum zur (medialen) Zielscheibe von antisemitisch fühlenden/“denkenden“ Rechtspopulisten würde.
Bei der Predigt (mit dem evangelischen Theologen Jürgen Moltmann auf den Punkt gebracht: „Judenmord ist Gottesmord“; und: Ein Christentum ohne das Judentum wäre ein im eigentlichen Sinne „entartetes Christentum“; R.N.) ebenso wie bei öffentlichen Stellungnahmen sollte keine Scheu an den Tag gelegt werden, die gefährliche inhaltliche Nähe von ultrakonservativen Katholik/innen und Rechtspopulist/innen darzulegen. Darum ist es für die katholische Kirche der Gegenwart so dringend nötig, endlich in der Moderne anzukommen (ohne deswegen „protestantisch“, gar im Sinne von Harnack/Slenczka, zu werden), damit wir Katholik/innen uns nicht weiterhin in einer „halbierten Moderne“ bewegen, die seit jeher eine Basis für antisemitische Verschwörungstheorien bietet und damit unsere Glaubensgrundlagen mehr gefährdet als es ein klares Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie und zur pluralistischen Gesellschaft je tun könnte.
Daraus ergibt sich als weiterer Gesichtspunkt, zusammen mit dem Islamwissenschaftler Thomas Bauer und dem koreanischen Philosophen Byung-Chul Han gegen die „Vereindeutigung der Welt“ (Bauer) und „Die Austreibung des Anderen“ (Han) aufzustehen, damit die Katholische Kirche sich nicht weiter zur soziologischen Sekte (mit allen potenziellen Gefährdungen!) entwickelt. Ein Weg dahin könnte sein, dass die Kirche, die sich zum „allmächtigen“ Gott bekennt, der sich in Auschwitz als „machtlos“ erwies (Tück DLF, 11. und 12.07.2016; dort auch die Formulierung von J. Moltmann), selber machtlos wird (Nieswandt III) und (mit dadurch eventuell wiedergewonnener Glaubwürdigkeit!) sich radikal an die Seite der Machtlosen, Entrechteten und Ermordeten stellt.
Darum darf es auch gegenüber Mitarbeiter/innen, die sich antisemitisch/rassistisch auch „im Kleinen“ äußern/verhalten, keine falsche Toleranz geben. Leider muss festgestellt werden, dass der Wandel der kirchlichen (offiziellen/lehramtlichen) Haltung gegenüber dem Judentum kaum beim Volk (und wahrscheinlich auch weiten Teilen des Klerus) angekommen ist.
„Wir werden den Antisemitismus nie auslöschen. Er ist ein tödliches Virus, das seit mehr als zweitausend Jahren unter uns ist. Wir können aber nicht wegschauen und so tun, als gäbe es das alles nicht. So haben die Menschen in den dreißiger Jahren reagiert. Und das führte zu Auschwitz.“ (R.S. Lauder, FAZ)
Zum Schluss: Drei Thesen zur weiteren Diskussion
Erstens: Je konservativer/traditioneller Katholik/innen eingestellt sind, umso größer ist die Gefahr, dass sie auch antisemitischen Einstellungen anhängen.
Zweitens: Je mehr „pastorale“ Rücksichtnahme auf Ultrakonservative und Traditionalist/innen in der katholischen Kirche, die nicht selten in personeller wie ideeller Verbindung zu rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien stehen, genommen wird, umso besser kann sich das Gift des Antisemitismus bis in die Mitte der Kirche hinein ausbreiten.
Drittens: Islamfeindlichkeit zeigt Qualitäten eines „Ersatz-Antisemitismus“, da soziale Probleme durch mangelnde Integration von muslimischen Migrant/innen in Deutschland (und Europa) die Entstehung verfestigter Feindbilder und die Übertragung von Vorurteilen des rassistischen Antisemitismus auf die Muslime erleichtern und schamloser vorgetragen werden können.
Anmerkungen und Quellenverweise
Wolfgang Benz (Benz), Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments. Schwalbach/Ts. 2. Aufl. 2016.
Werner Bergmann (Bergmann), Geschichte des Antisemitismus. München, 5. Aufl., 2016.
Blum, Matthias 2011: „Katholische Kirche und Antisemitismus“ (Blum): https://bagkr.de/wp-content/uploads/2018/07/blum_kathKirche-und-AS-1.pdf
Blum: „Bei den sehr Religiösen scheint es vielfach nicht die Religiosität per se zu sein, die hinter ihren Vorurteilen steht, sondern ein Überlegenheitsanspruch, der sich nicht selten mit ihr paart“ (Blum, 18, 21 und22). Und: „Unabhängig von der Frage, ob Katholiken tatsächlich judenfeindlicher eingestellt sind als Konfessionslose, ist es mehr als auffällig, dass sich der Wandel der katholischen Kirche in der Haltung zum Judentum in keiner Studie niederschlägt, obwohl er vonseiten der Kirche eindeutig zum Ausdruck gebracht wird. Dass Antisemitismus in der katholischen Kirche keinen Platz hat und man stattdessen um eine würdevolle Darstellung der jüdischen Religion bemüht ist, hat offensichtlich noch nicht signifikant zu einer nachweisbaren Dimension von Religiosität geführt, die vor Judenfeindschaft schützt.“
Domradio, 22.11.2019: https://www.domradio.de/themen/glaube/2019-11-22/wie-eine-neue-herrenrasse-kardinal-mueller-konstatiert-hass-der-eliten-auf-die-kirche
FAZ 25.02.2020: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/studie-afd-waehler-sind-antidemokratisch-und-antisemitisch-gepraegt-16650970.html
Heilbronn, Christian u.a., „Neuer Antisemitismus? – Fortsetzung einer globalen Debatte“ (Neuer Antisemitismus?). Berlin 2019, 3. erweiterte und überarbeitete Auflage.
Jenaer Erklärung der 112. Jahrestagung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft in Jena 2019, anlässlich des hundertsten Todestag von Ernst Haeckel: „Die Idee der Existenz von Menschenrassen war von Anfang an mit einer Bewertung dieser vermeintlichen Rassen verknüpft, ja die Vorstellung der unterschiedlichen Wertigkeit von Menschengruppen ging der vermeintlich wissenschaftlichen Beschäftigung voraus. Die vorrangig biologische Begründung von Menschengruppen als Rassen – etwa aufgrund der Hautfarbe, Augen- oder Schädelform – hat zur Verfolgung, Versklavung und Ermordung von Abermillionen von Menschen geführt. Auch heute noch wird der Begriff Rasse im Zusammenhang mit menschlichen Gruppen vielfach verwendet. Es gibt hierfür aber keine biologische Begründung und tatsächlich hat es diese auch nie gegeben. Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.“ https://www.shh.mpg.de/1464864/jenaer-erklaerung
Katholisch.de, 29.01.2018: https://www.katholisch.de/artikel/16344-papst-wir-sind-gleichgueltig-gegenueber-antisemitismus
Lauder, Ronald Stephen, FAZ 27.01.2020: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/rede-des-praesidenten-des-juedischen-weltkongresses-zu-auschwitz-16603068.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
Nieswandt, Reiner (I, II und III):
- I: Abrahams umkämpftes Erbe. Populärwissenschaftliche Kurzfassung der Dissertation. Stuttgart 2008.
- II: Abrahams umkämpftes Erbe. Dissertation. Stuttgart 1998.
- III: „Reißt diesen Tempel nieder“ – Anstöße für eine andere Kirche. Paderborn 2019.
In meinem Promotionsprojekt, und darüber hinaus schon seit vielen Jahren vertrete ich die Auffassung, dass es im Nahostkonflikt wie in der gesamten Region eine generell versöhnlichere und auf gerechten Ausgleich bedachte Haltung braucht, die in einer wahrscheinlich fernen Zukunft zu einem Miteinander der Staaten, ähnlich wie in der Europäischen Union führen könnte.
Nostra Aetate: Ursprünglich sollte es beim II. Vatikanischen Konzil eine eigene Judenerklärung geben, was von den nahöstlichen Konzilsvätern wegen des Konflikts mit Israel abgelehnt wurde. Auf diesem Hintergrund entstand Nostra Aetate (Nieswandt II, 2f.). So wie das Konzilsdokument die jahrhundertelange Feindschaft mit dem Islam bedauert (NA 3), wird die Behauptung einer kollektiven Verantwortung der damaligen wie der späteren Juden für die Hinrichtung Jesu ebenso verworfen wie jegliche Manifestationen des Antisemitismus (NA 4). Text in: K. Rahner/H. Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium. Freiburg, u.a. ab 1966.
Tück, Jan-Heiner, NZZ 21.06.2015: https://www.nzz.ch/feuilleton/christentum-ohne-wurzel-1.18565646
Tück, Jan-Heiner, DLF 11.07.2016: https://www.deutschlandfunk.de/christen-und-juden-bruchstuecke-zu-einer-theologie-nach.886.de.html?dram:article_id=359452
Tück, Jan-Heiner, DLF 12.07.2016: https://www.deutschlandfunk.de/christen-und-juden-warum-hat-gott-zugeschaut-in-auschwitz.886.de.html?dram:article_id=359462
Zeit 25.02.2020: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/universitaet-leipzig-verschwoerungsmentalitaet-afd