Im Anfang war das Staunen – Versuch einer theologischen Wiedergewinnung
 
Einleitung

Angeregt durch einen Buchtitel[1] und eine Zeitungsdiskussion[2] entstanden in und nach der Weihnachtszeit 2015/16 die folgenden Gedanken:
Schon länger verfolgt mich als Theologe ein Unwohlsein hinsichtlich der Dichotomie („Zweiteilung“) von Denken[3] und Fühlen[4], nicht nur in religiösen Fragen. Ähnliches gilt für den häufig deklamierten Gegensatz von Glauben (= Für-wahr-Halten, Vermuten) und Wissen (= klare, am besten wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis).[5] Theologie als Glaubenswissenschaft[6] wird von ihren Kritikern in Zweifel gezogen und ihr Rückzug aus den Universitäten hinein in die konfessionellen Kaderschmieden unterschiedlicher Qualität gefordert, von agnostischen Skeptikern ebenso wie von „fundamentalistisch“ orientierten Christen.
Dass es eine gemeinsame Voraussetzung für Glauben und Wissen, Denken und Fühlen gibt, ist mir erst jetzt aufgegangen, im 54. Lebensjahr. Dieser möchte ich nachgehen; ich identifiziere sie als „Staunen“.[7]
 
Staunen – Grunderfahrung des Menschen
„Staunen“ ist eine natürliche Reaktion des Menschen auf ein meist plötzlich auftretendes Ereignis. Naturerfahrungen ebenso wie Kulturerlebnisse sowie zwischenmenschliche Ereignisse können zum Staunen anregen:
Im Bereich der Natur sind es auf der Negativseite Erdbeben, Vulkanausbrüche und Wetterunbilden, dazu wilde Tiere und giftige Pflanzen, die eine Bedrohung der menschlichen Existenz darstellen (können) und zum erstaunten Erschrecken darüber führen; umgekehrt erleben Menschen positiv die „überwältigende“, „unglaubliche“ Schönheit der Natur, etwa nach dem Aufstieg auf einen hohen Berg[8] oder in der meditativen Betrachtung eines „Sonnenuntergangs“[9] in grandioser Landschaft und ähnlichem, sowie bei freundlichem Kontakt zur belebten, zumal „wilden“ Natur. „Heilige Schauer“ können die Folge sein, zeigen sich aber insofern als ambivalent, da diese im Wortsinne „haarsträubenden“ Erfahrungen sowohl zur religiösen Erfahrung wie ihrer aggressiven Abwehr beitragen können.[10]
Im Bereich der Kultur kann der Mensch angesichts großartiger architektonischer, musikalischer, bildhafter und sonstiger künstlerischer Leistungen oder Präsentationen anderer erstaunen,  ebenso mit Blick auf die Möglichkeiten, die Alltagsgegenstände technischer oder gebrauchsorientierter Art (z.B. Werkzeuge, Fahrzeuge) bieten.
Am intensivsten erfahren Menschen das Staunen bei Geburt und Tod. Diese treten in der Regel nicht plötzlich auf, sondern gehören zum Abschluss eines vorbereitenden Prozesses von Schwangerschaft der Mutter und Werden des Kindes im Mutterleib am Beginn des Lebens bzw. schwerer Krankheit und Sterben am Lebensende. Glückserleben und das Gefühl intensiver Verbundenheit mit „Gott und der Welt“ bei der Geburt, ebenso wie tiefes Erschrecken und Entsetzen angesichts von Leiden und Sterben eines (geliebten) Menschen; das Gefühl des Überwältigtseins und der persönlichen Unwürdigkeit als einfacher, fehlbarer, „kleiner“ Mensch, ebenso wie tiefes Erschrecken angesichts all dessen, was möglich ist oder gerade mir oder Anderen widerfährt, gehören dabei zur Bandbreite des Staunens.
Zur charakteristischen Körperhaltung des Staunenden gehören der weit geöffnete Mund und die ebenfalls weit geöffneten Augen sowie die für andere nicht sichtbare erhöhte Aufmerksamkeit aller anderen menschlichen Sinne. Der staunende Mensch ist dabei entweder zu gar keiner Äußerung fähig oder teilt sich (zumindest anfänglich) in eher unartikulierten Lauten mit.

Staunen in der Philosophie[11]
Platon identifiziert Staunen als „Anfang der Erkenntnis“.[12] Dabei ist „Staunen“ Anfangs- und Endpunkt einer Aufstiegsbewegung der Vernunft. Aristoteles bezeichnet das Staunen als Anlass zum zweckfreien (!) Nachdenken über zunächst unerklärliche Erscheinungen (= Philosophieren).[13] Die stoische Philosophie hingegen identifiziert das Staunen als einen beeinträchtigenden Affekt, der den Weisen von der wirklichen Erkenntnis abhält. Ähnlich sieht auch der neuplatonisch geprägte Kirchenvater Augustinus das Staunen als schädliche Neugier, die den Menschen von der für ihn allein wertvollen Gotteserkenntnis abhält.[14]  Im Mittelalter formuliert Thomas von Aquin: „Das Staunen ist eine Sehnsucht nach Wissen“. Um 1600 rehabilitiert Francis Bacon das neugierig-forschende Staunen als legitime „Weltbemächtigung“.[15] In der Moderne sehen als Naturwissenschaftler neben anderen Louis Pasteur und Albert Einstein das Staunen als Voraussetzung wissenschaftlichen Erkennens[16]; infolge des Zweiten Weltkriegs entdecken viele Wissenschaftler aber auch die Schattenseite des Missbrauchs der Wissenschaft zu zerstörerischen oder manipulativen Zwecken.[17]
 
Staunen in der Psychologie[18]
Der italienische Gestaltpsychologe Giuseppe Galli zählt das Staunen zu den sozialen Tugenden:[19] Staunen verzichtet darauf, sich vom anderen ein fertiges Bild zu machen, zweifelt vielmehr an solchen Bildern und ist von Ehrfurcht[20] und Güte[21] geprägt. Das Gegenteil solchen Staunens ist „aufdringliche Neugier, das Bedürfnis, über den anderen alles zu wissen und ihn damit zu ‚besitzen‘“.[22] Solches Verhalten macht echtes Staunen und damit Liebe zunichte.

Staunen in der Heiligen Schrift
In den ältesten Überlieferungen des Alten Testaments wird Jahwe als „Wettergott“ von den Stämmen Israels wahrgenommen und verehrt.[23] So verwundert es kaum, dass es zu „positivem Staunen“ sowohl mit Blick auf die Schönheit der Schöpfung kommt, z.B. in den Psalmen 104 und 139[24], als auch angesichts seiner Heilstaten in der Geschichte Israels, z.B. Ex 15,1-21[25], anlässlich der wundersamen Rettung der Israeliten am Schilfmeer.
Als „Kehrseite“ des Staunens findet sich ebenso das „Erschrecken“ des Volkes Israel bei der Offenbarung Gottes am Sinai, wo Gott im Gewitter, in Feuer und Beben „auf den Berg herabsteigt“ (Ex 19, 16-18) und das Volk davor warnt, ihm zu nahe zu kommen (Ex 19,21).[26]
Im Neuen Testament finden wir „Staunen“[27] vor allem in der Überlieferung der synoptischen Evangelien, in Zusammenhang mit Jesu Wundertaten sowie seiner Lehre.[28] Bemerkenswert ist, dass das Johannes-Evangelium ohne das „Staunen“ auskommt, vielmehr betont, dass einige Menschen angesichts der „Zeichen“ Jesu (nicht „Wunder“!) zum Glauben kommen, andere bei ihrem Unglauben bleiben.
In der Kindheitsgeschichte Jesu nach Lukas finden wir zu Beginn dreimaliges Erschrecken derjenigen, denen Engel die frohe Botschaft bringen: Zacharias bei seinem Dienst im Jerusalemer Tempel, als der Engel Gottes ihm die späte Schwangerschaft seiner Frau Elisabeth und die Geburt eines Sohnes, Johannes des Täufers, ankündigt (Lk 1,12; sein vorläufiger Unglauben lässt ihn verstummen!); Maria, der der Erzengel Gabriel die Geburt Jesu verkündet (Lk 1,29; ihr Glaube lässt sie „ja“ sagen) und die Hirten auf den Feldern, die aufgefordert werden, zum Stall nach Bethlehem zu gehen, wo der Messias geboren wurde (Lk 2,9).[29] Verbunden mit der Verkündigung der Engel ist stets die Aufforderung, sich nicht zu fürchten.[30] Nachdem die Hirten am Stall eintreffen und alles so vorfinden, wie der Engel ihnen gesagt hatte, erzählen sie den Anwesenden, „was ihnen über dieses Kind gesagt worden war. Und alle, die es hörten, staunten (ethaumasan) über die Worte der Hirten. Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach“ (Lk 2,16-19). Später (Lk 2,33) heißt es nach dem Lobgesang des greisen Simeon bei der Darstellung Jesu im Jerusalemer Tempel ähnlich: „Sein Vater und seine Mutter staunten (thaumazontes) über die Worte, die über Jesus gesagt wurden“ (jeweils Einheitsübersetzung).
Anders in der Kindheitsgeschichte Jesu bei Matthäus: Als die Sterndeuter aus dem Osten zu Herodes kommen und nach dem neugeborenen König der Juden fragen, erschrickt dieser (griech. etaraxthe) „und mit ihm ganz Jerusalem“ (Mt 2,3).[31] Sein Erschrecken führt nicht zum Ablegen seiner Furcht und zum Aufbruch nach Bethlehem, sondern zum Kindermord in Bethlehem (2,16-18). Bereits in der Kindheitsgeschichte des Matthäus wird deutlich, dass dieser Jesus als den „neuen Mose“ ansieht, insofern das Kind, ähnlich wie Mose im Buch Exodus, (der vor dem vom Pharao angeordneten Kindermord in Ägypten verschont blieb; Ex 1,15 – 2,10), durch die Flucht seiner Eltern nach Ägypten gerettet wird und nach einiger Zeit nach Israel zurückkehren kann (Mt 2,13-15; 19-23[32]).
Beim Einzug Jesu nach Jerusalem, wenige Tage vor seiner Verhaftung und Hinrichtung, wird in der Überlieferung des Matthäus-Evangeliums nicht nur das ohnehin schon skandalöse „Aufräumen“ im Tempel durch Hinauswurf der Händler berichtet, sondern auch Krankenheilungen von Lahmen und Blinden, sowie die ärgerliche Reaktion der religiösen Führer auf Kinder, die Jesus huldigen.[33]
In der Kreuzigungsüberlieferung finden wir einerseits die Verspottung Jesu durch Soldaten und Mitgekreuzigte, Zuschauer und die Hohenpriester.[34] Im Moment des Todes Jesu kommt es nicht nur zu Finsternis[35]  und Erdbeben[36], sondern der heidnische Hauptmann bekennt im Kontrast zu den Spöttern den (christlichen) Glauben.[37] Die Frauen aus dem Gefolge Jesu (die am Ostermorgen die ersten am Grab sein werden!) stehen derweil als Zeuginnen seiner Kreuzigung schweigend zuschauend in der Nähe.[38] Nach dem Tod Jesu gehen – nur bei Lukas – die Zeugen dieses „Schauspiels“ (griech. theoria[39]) betroffen weg. Nach der Markus-Überlieferung zeigt sich Pilatus auf die Bitte des Josef von Arimathäa um Freigabe des Leichnams Jesu zur Beisetzung verwundert, dass der gekreuzigte Jesus bereits tot sei.[40]
Bei der Auferstehungserzählung nach Matthäus bebt die Erde und das Gewand des Engels leuchtet wie ein Blitz (28,2-5). Während die Grabwächter vor Angst in Ohnmacht fallen, erfolgt die Ansage an die Frauen, sich nicht zu fürchten (me phobeisthe). Die Reaktion der Frauen besteht bei Matthäus sowohl aus Angst als auch aus großer Freude, bei Markus (16,8) hingegen nur aus „Schrecken und Entsetzen (ekstasis)“. Bei Lukas fürchten sich die Frauen (emphobon, 24,5), während Petrus, der nach der Benachrichtigung durch die Frauen zum Grab eilt, sich auf dem Heimweg wundert (thaumazon, 24,12). Ebenso erstaunen (thaumazonton) die anderen Jünger wenig später beim Erscheinen des auferstandenen Herrn (Lk 24,41) vor Freude.[41]

Im Anfang ist das Staunen
In der europäischen Geistesgeschichte wurde, wie gesehen, das Staunen unterschiedlich bewertet: als Grundlage für das Bewundern und (später wissenschaftliche) Erforschen des Kosmos (Platon und Aristoteles, Francis Bacon und eine Reihe bedeutender Naturwissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts), negativ als Haltung, die den Menschen durcheinander bringt und ihn an der ruhigen Ausgeglichenheit hindert (die Stoiker); der die abendländische Kirchengeschichte maßgeblich prägende Bischof und Theologe Augustinus von Hippo erblickte im Staunen vorwiegend schädliche Neugier.
Welche Haltung scheint nun für unsere Zeit, angesichts der widersprüchlichen Haltung bedeutender Geistesgrößen, die „richtige“ bzw. angemessene zu sein? Spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts erschraken Naturwissenschaftler, die, von staunender Neugier der Grundlagenforschung hingegeben, der Schöpfung „ihre Geheimnisse entrissen“, über die negativen Anwendungsmöglichkeiten ihrer Erkenntnisse (z.B.: Atomenergie und die Möglichkeit nuklearer Selbstzerstörung der Menschheit – Humangenetik und die Möglichkeit zur technischen Produktion des „perfekten“ Menschen). Bis heute wurde keine überzeugende Regelung gefunden, Erkenntnisse der Grundlagenforschung vor zerstörerischer oder schädlicher Anwendung durch andere (Wissenschaftler und Techniker, Politiker und Wirtschaftsführer) zu bewahren. Die von den Stoikern und Augustinus vertretene Haltung, dass neugieriges Staunen den Menschen nur durcheinander bringt oder gar schädlich ist, ist somit nicht gänzlich von der Hand zu weisen, selbst wenn es Forscherneugier war, die den technologischen Fortschritt der Menschheit, der vor etwa 250 Jahren vom Abendland ausging, erst möglich machte.
Der zeitgenössische Mensch ist durchaus noch zum Staunen fähig; aber dies scheint mir ein überwiegend konsumorientiertes, ekstatisches Staunen zu sein, das den Menschen nicht zur Seelenruhe kommen lässt, sondern davon wegführt. Darauf bezogen hatten die Stoiker und Augustinus ebenso Recht. Als Beispiele seien genannt: Autos oder elektronisches Spielzeug, die neu auf den Markt kommen (wohl eher für den Mann), neue Kleidungstrends und Einrichtungsmöglichkeiten (wohl eher für die Frau), populäre Musik (eher für die Jüngeren) und die heutigen Möglichkeiten, jeden Winkel der Welt touristisch zu erkunden (für alle Generationen).[42] Auch in dieser Hinsicht gilt die biblische Weisheit des Kohelet (etwa 3. Jahrhundert vor Christus; 1,9): „Es gibt nichts (wirklich; RN) Neues unter der Sonne“.[43]
Trotz der von mir erhobenen Einwände ist der moderne Mensch weiterhin auch zum „richtigen“ Staunen fähig, wie es von mir zu Beginn skizziert wurde: angesichts von Naturereignissen (Staunen und Erschrecken), bei Geburt (Erfahrung von „Einssein“ mit der Schöpfung) und Tod (Erschrecken angesichts der Endlichkeit) und im staunenden Sich-Einlassen auf die großen Schöpfungen menschlicher Kultur.
Das Staunen, wie ich es verstehe, ist nicht nur die spontane Reaktion auf ein überraschendes oder überwältigendes Ereignis, sondern kann aktiv eingeübt werden: In nach außen scheinbarer Passivität nimmt der Mensch sich selbst, seine Gedanken und Gefühle bewusst zurück, öffnet sich mit allen Sinnen und wird „leer“, um ein Ereignis geschehen zu lassen. Er lässt damit dem, was da geschieht, sein „Eigenrecht“, „behandelt“ es respektvoll und sensibel, insofern er eben nicht handelt, sondern es aktiv an sich „heran lässt“.
„Echtes“ Staunen verzichtet darauf, sich vom Bestaunten ein fertiges Bild zu machen; es entspricht damit dem biblischen Bilderverbot[44] und ermöglicht den Einbruch des Absoluten in das Zeitliche, also Offenbarung.  Mögliche Reaktionen auf die Offenbarung sind Erschrecken, Überwältigtsein, (Er-) Staunen, Sich-zurück-Nehmen desjenigen, dem dies widerfährt, ebenso auch (aggressive) Abwehr und Sich-Verschließen. Im Grunde ist Staunen nichts anderes als eine Anleitung zur Kontemplation (wörtlich: Anschauung, Betrachtung), oder mit anderen Worten: Staunen ist eine erste, unspezifische Haltung, ein anfänglicher Impuls, aus dem heraus es zu weiterem (wissenschaftlich-forschendem) Denken oder (positivem wie negativem) Fühlen kommen mag.[45]
Was hindert den Menschen, diese Haltung des Staunens einzunehmen? Da scheint mir, neben der beschriebenen ekstatisch-konsumorientierten Haltung, auch die Ich-Bezogenheit des Menschen, sein psycho-sozialer „Autismus“, eine wichtige Rolle zu spielen. Diese (vielleicht) als Überlebensstrategie zur Komplexitätsreduzierung angesichts einer mit ihren Sinnesreizen überfordernden Gegenwart motivierte Selbst-Bezogenheit, das gedankliche und emotionale Verweilen bei den Alltagstätigkeiten und Sorgen, Wünschen und Träumen, hindern ihn ebenso wie seine konsumtive „Neugier“ am echten Staunen und damit an wirklich neuer bzw. erneuerter/erweiterter Erkenntnis. Ein wesentliches Motiv für diesen „Autismus“ scheint mir die Angst davor zu sein, in den Grundfesten der eigenen Überzeugungen, Gedanken und Gefühle erschüttert zu werden und alle (Schein-) Sicherheiten zu verlieren.

Staunen - Antwort des Menschen auf die (Selbst-) Offenbarung Gottes
Im biblischen Durchgang lasen wir in den Kindheitsgeschichten des Matthäus- und des Lukasevangeliums, dass Herodes angesichts des Erscheinens der Weisen ebenso „durcheinander geriet“ (Übersetzung F. Stier) wie der Priester Zacharias bei der Erscheinung des Engels. Während Herodes mit brutaler Gewalt reagiert, kommt es bei Zacharias zur verspäteten Bekehrung anlässlich der Geburt seines Sohnes Johannes.
In der Sprache der Bibel wird die von mir „Autismus“ genannte Haltung als „Verstocktheit“ (Einheitsübersetzung) bzw. „Verhärtung“ (F. Stier) bezeichnet, die häufig von Gott bewirkt ist.[46]
Die Fähigkeit, die Offenbarung Gottes in der Geschichte zu erkennen und gläubig-staunend anzunehmen, verlangt seitens des Menschen eine grundsätzliche Offenheit dafür; diese Aufgeschlossenheit wiederum, so christliche Glaubenslehre, ist allein durch seine Gnade möglich. Die konkreten „Raum-Zeit-Punkte“, in denen sich Gott selbst durch Jesus Christus offenbart hat und dies von Menschen erkannt wurde, sind: seine Geburt in Bethlehem vor rund 2.000 Jahren; sein gut 30-jähriges Leben und etwa dreijähriges öffentliches Wirken im geographischen Gebiet zwischen dem heutigen Süd-Libanon und der Stadt Jerusalem; ebendort sein Tod als am Kreuz Hingerichteter und seine Auferstehung. Die synoptischen Evangelien finden die für die Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus bereiten Menschen als Hirten auf den Feldern, als Arme, Kranke und an den Rand Gedrängte (die mit der Sorge um das eigene Überleben beschäftigt sind und weder Zeit noch Gedanken für philosophische Muße oder fromme Betrachtung haben); ferner bei den Kindern, deren staunend-offene Haltung von Jesus immer wieder als Bedingung für den Eintritt in das Reich Gottes genannt wird[47], und beim heidnischen Hauptmann, der den Gekreuzigten als Gottes Sohn bekennt (Mk 15,39). Dies ist die von Jesus in seiner Bergpredigt gemeinte Seligkeit der „Armen im Geiste“ (Mt 5,3), denen das Himmelreich verheißen ist.
Mit dem Ablegen der ihm natürlich gegebenen Furcht kann der Mensch ins Staunen eintreten und „Ja“ sagen, so wie Maria bei der Verheißung des Engels (Lk 1,26-38), und gläubig-staunend das Offenbarwerden Gottes in der Zeit annehmen. In der weiteren Folge mag diese Erfahrung zum (vertieften, reflektierten) Glauben bzw. Erkennen führen (Hirten und Weise bei der Geburt Jesu, Frauen und der heidnische Hauptmann bei der Kreuzigung; dieselben Frauen und Petrus bei der Auferstehung). Wer hingegen auf spöttischer Distanz bleibt, wie der Großteil der Zuschauer bei der Kreuzigung Jesu, kann nicht erstaunen. Er bleibt bei seiner Verstocktheit (Ignoranz, „Autismus“), verharrt im Unglauben und damit im Unwissen.
 
Was bedeutet dies für Glauben und Verkündigung?
Der Hebräerbrief erkennt einen fundamentalen Unterschied zwischen alt- und neutestamentlicher Gotteserfahrung.[48] Anders als zu der Zeit, in der das Volk Israel am Sinai mit großer Angst auf die „Erscheinung“ Gottes „im Wetter“ reagierte, dürfen Christen ganz angstfrei an das Mysterium ihres Glaubens herantreten: zur Gemeinschaft mit Gott und den Heiligen durch das Leben, Sterben und Auferstehen des Herrn Jesus Christus.
Daraus, und aus dem oben Herausgearbeiteten, ergeben sich für alle Bereiche christlichen Lebens deutliche Konsequenzen:
Da ist zunächst der Bereich der Gottesdienste: Ästhetisch ausgefeilte Liturgien sind der falsche Weg, zumal wenn sich alle „Akteure“ darauf konzentrieren müssen, was innerhalb solcher Gottesdienste „richtig“ oder „falsch“ ist und „Fehler“ zu vermeiden. Hier ist vielmehr größtmögliche Schlichtheit geboten, damit Raum geschaffen wird für die Gegenwart Gottes in der heiligen Feier und die Teilnehmer zum Staunen und Beten bewegt werden (können). Unverzichtbare Bedingung für ein solches Gelingen ist, dass der Zelebrant und alle anderen durch einen Dienst Mitwirkenden (Musiker, Ministranten, Lektoren etc.) sich soweit wie möglich persönlich herausnehmen, um Gottes Dienst an uns geschehen zu lassen: das Mysterium Gottes, der sich in Menschwerdung, Leben und Sterben seines Sohnes Jesus Christus auch in unserer Raum-Zeit buchstäblich in die Hände des Menschen begibt, um uns durch seine Auferstehung ins Reich seines Vaters mitzunehmen. Dies „Geheimnis des Glaubens“ (Liturgie) wird in unseren Gottesdiensten gefeiert und lädt die Gläubigen ein zur gläubig-staunenden Mitbewegung.
Aus dem Gesagten ergibt sich ferner, dass Gottesdienste weder durch Wortreichtum („Logorrhoe“) noch durch eine Fülle „gestalterischer Elemente“ geprägt sein sollten. Ziel jedes Gottesdienstes sollte immer die Bereitung der Herzen sein, damit sich die Teilnehmer (einschließlich der „Akteure“) staunend-glaubend dem Mysterium öffnen können, so wie dies den Emmaus-Jüngern widerfuhr, die am Ende eines langen Tages mit Jesus unterwegs und dem Erkennen des auferstandenen Herrn, als er das Brot brach, zueinander sagten (Lk 24,32): „Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?“
Ein für mich nach wie vor beeindruckendes Beispiel aus dem kirchlichen Festkreis ist die Tatsache, dass unsere Kirchen an Weihnachten immer noch sehr gut besucht sind. Da mag zwar traditionelles Denken dabei sein, Rücksichtnahme auf Familienangehörige und eigene Unsicherheit, wie den Kindern die „Geschichte“ von Weihnachten zu vermitteln ist. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass bei vielen auch eine zumindest anfängliche Sehnsucht nach Staunen vorhanden ist, die die Menschen zur Kirche bewegt. Unsere Krippen sind an Weihnachten von vielen Menschen umlagert, die sich das Kind mit seinen Eltern, den Hirten, den Weisen und den Tieren anschauen wollen, vielleicht sogar staunen können, und zwar nicht über die „Gestaltung“ der Krippe (ob gelungen oder eher weniger), sondern über die Botschaft der Weihnacht, auch wenn dies für den Rest des Kirchenjahres keine weiteren (sichtbaren) Konsequenzen haben mag.[49]
Die Begegnung mit Armen, Kranken und an den Rand Geratenen und das ganz konkret hilfreiche Sich-auf-sie-Einlassen ist, ebenbürtig zur Feier der Gottesdienste, die weitere Chance, dem gekreuzigt-auferstandenen Herrn selbst zu begegnen und darüber ins ehrfürchtig-liebevolle Anschauen und Staunen zu geraten. Das Matthäus-Evangelium (25,31-46) ist da ganz eindeutig: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder (nicht) getan habt, das habt ihr (auch) mir (nicht) getan“ (v. 40 und 45; Einheitsübersetzung).  Auch die Vernachlässigten und Aus-dem-Blick-Geratenen sind eine ganz konkrete Offenbarung und ein „An-Spruch“ Gottes an den Menschen in der jetzigen Raum-Zeit.[50]
Im Feld der Verkündigung und Katechese sollte die Anleitung zum ehrfürchtigen, somit gerade nicht ängstlichen sondern respektvollen[51] Staunen ebenfalls (wieder) ihren Platz finden, sowohl bei Kindern wie bei Erwachsenen. Angesichts der allgegenwärtigen Reizüberflutung und des „konsumtiven Staunens“ sollten wir alles daran setzen, dass Kindern das ihnen natürlich gegebene Staunen nicht frühzeitig genommen wird - das „verliert sich von selbst“! - und Erwachsene dieses wieder entdecken können. Da scheint mir in der jüngeren Vergangenheit oft das Gegenteil praktiziert worden zu sein, unter dem „pädagogischen“ Anspruch der „Entmythologisierung“ (was nur einen religionspädagogisch verbrämten Beitrag zur weiteren „Entzauberung der Welt“ bedeutet). Als Beispiel sei von mir der „Nikolaus“ genannt, bei dem vielen Kindern heute „beigebracht“ wird, dass es sich um einen verkleideten Mann handelt. Pädagogik im Allgemeinen und Religionspädagogik im Besonderen sollte Menschen, Kindern wie Jugendlichen und Erwachsenen, das Staunen nicht „austreiben“, sondern dazu anhalten und die Wiedergewinnung des unmittelbaren Staunens unterstützen, ohne ins Kitschige oder ins Verkehrt-Emotionale zu verfallen.
Emotionale Vertiefung ebenso wie rationales Weiterdenken, wie zu Beginn erläutert, erfolgen stets sekundär, als notwendige zweite Schritte auf das ursprüngliche Staunen. So ist die theologische Wissenschaft eine Folge des Glaubensereignisses, das die Menschen damals zum Er-Staunen brachte und heute wieder bringen sollte. Theologie, die selber nicht mehr staunt und zum Staunen anhält, reduziert sich auf Philologie und Kulturwissenschaft.[52] Andererseits: Die (den Verstand häufig ausklammernde) Betonung des religiösen „Gefühls“ („Ich und mein Jesus“), abgetrennt vom ursprünglichen Staunen, reduziert „Glauben“ auf das Eigenbefinden. Es ist vom Fühlenden auf Reproduzierbarkeit ausgelegt und kann, wenn es in sich verkapselt bleibt, sogar zur Depression führen. Nach meinem Dafürhalten wird solche Selbstbezogenheit kaum zum inneren Aufbruch, zur Kommunikation mit dem Mysterium sowie dem für das Gelingen kirchlicher Gemeinschaft notwendigen „sentire cum ecclesia“ („Fühlen mit der Kirche“) oder auch nur zur persönlichen spirituellen Weiterentwicklung führen, die doch häufig mit solcher Haltung beabsichtigt wird. Ein nach meiner Erfahrung typisches Indiz dafür ist das „Durcheinander-Geraten“ gerade von ernsthaft suchenden, spirituell orientierten Menschen, wenn das Leben nicht wunschgemäß verläuft.
Nicht zuletzt ist die Wiedergewinnung des Staunens eine Chance, sowohl den von „geistlicher Trägheit“ (lateinisch acedia, eine der sieben Todsünden!) geprägten Klerikalismus[53] wie auch „zornig-aggressiven“ (lateinisch ira, eine weitere Todsünde) Fundamentalismus[54] zu überwinden. Das biblische „Vorbild“ des um sich selbst kreisenden Klerikalismus entdecke ich im Priester Zacharias, dem die Gnade der verspäteten Bekehrung geschenkt wurde und er darüber in den staunenden Lobpreis Gottes einstimmen konnte (Lk 1,57-80). Das biblische „Vorbild“ des allgegenwärtigen Fundamentalismus, dem es immer wieder gelingt, über „pressure groups“ Einfluss auf religiöse wie politische Entscheidungsträger zu nehmen, entdecke ich hingegen im König Herodes, der mitsamt seinem Hofstaat „durcheinander geriet“ und darüber zum Kindermörder wurde. Auch hier könnte die Wiedergewinnung des Staunens anstelle des ängstlichen Erschreckens ein wirksames Heilmittel sein.[55]

Statt eines Schlusswortes (Lk 2,18.19)
„Und alle, die es hörten, staunten über die Worte der Hirten. Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach.“



Literaturverzeichnis
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Die Bibel. Nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1912.
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Franziskus von Assisi; Die Schriften des Heiligen Franziskus von Assisi. Einführung, Übersetzung, Erläuterungen. Lothar Hardick OFM und Engelbert Grau OFM. Werl 19806.
Galli, Giuseppe, Psychologie der sozialen Tugenden. Wien 2. erweiterte Auflage 2005.
Graf, Friedrich Wilhelm und Mosebach, Martin: Sind wir Christen noch bei Trost? – Theologisches Streitgespräch: FAZ (Internetausgabe): 25.12.2015.
Jantzen, J.: Art. „Staunen“ in: LThK , Bd. 9, Freiburg, 3. Aufl. 1993-2001, Sp. 939-940.
Kermani, Navid, Ungläubiges Staunen – Über das Christentum. München 2015.
Martens, Ekkehard, Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier. Leipzig 2003.
Papst Franziskus, Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit Andrea Tornielli. München 2015.
Stefan Matuschek, Über das Staunen: Eine ideengeschichtliche Analyse (Studien zur deutschen Literatur). Berlin 2011 (Reprint).
Werner May, Anleitungen zum Staunen. Sich im Geheimnis verwurzeln. Kitzingen 2014.
Reinhard Müller: Jahwe als Wettergott: Studien zur althebräischen Kultlyrik anhand ausgewählter Psalmen (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft). Berlin 2008.
Das Neue Testament. Interlinearübersetzung Griechisch-Deutsch. Neuhausen 1987.
Das Neue Testament. Übersetzt von Fridolin Stier. München 1989.
Novum Testamentum, Graece et Latine. Stuttgart 1984.
Josef Pieper, Was heißt Philosophieren? Einsiedeln, Freiburg 20113.
Platon, Theätet. Griechisch-Deutsch. Kommentar von Alexander Becker. Frankfurt 2007.
Waldenfels, Hans, Kontextuelle Fundamentaltheologie. Paderborn u.a. 19882

[1] Navid Kermani, Ungläubiges Staunen – Über das Christentum. München 2015[2] Friedrich Wilhelm Graf, Martin Mosebach: Sind wir Christen noch bei Trost? – Theologisches Streitgespräch: FAZ (Internetausgabe): 25.12.2015[3] Im „Geist“ (griech. „nous“: rational, vernünftig) beheimatet.[4] In der „Seele“ (griech. „psyche“: irrational, unvernünftig) angesiedelt[5] Zumindest im deutschen Sprachgebrauch kommt noch erschwerend hinzu, dass „Glauben“ auch „Vermuten“ bedeuten kann So kann ich z.B. „glauben“ (= vermuten), dass wir morgen schönes Wetter bekommen, solange ich nicht die heute schon sehr präzise gewordenen Wettervorhersagen studiere.[6] Mein theologisches Denken ist wesentlich geprägt von meinem Lehrer Hans Waldenfels und seinem Grundlagenwerk „Kontextuelle Fundamentaltheologie“, hier: Paderborn u.a. 19882, S. 482 – 488.[7] Vgl. hierzu: Hans Waldenfels, Kontextuelle Fundamentaltheologie, Seiten 100, 135, 141, 156f., 159 ff., 200, 246 f.[8] Vgl. dazu E. Martens, Vom Staunen, S. 62-72, der einen knappen Durchgang unternimmt vom Aufstieg des Frühhumanisten Francesco Petrarca auf den provenzalischen Mont Ventoux in den 1330er Jahren (mit dem von einigen Gelehrten die Schwelle vom „finsteren“ Mittelalter zum Beginn der Neuzeit markiert und Petrarca zum Vater des Alpinismus erklärt wird), über einen Vergleich von Platons Höhlengleichnis mit Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ bis hin zu Reinhold Messners „Philosophie“ des Bergsteigens: „Weisheit hat mit Staunen zu tun. Sie beginnt nach meiner Ansicht mit ‚nicht mehr wollen‘, ‚keine Ziele mehr haben‘, nur noch offen sein“ (S. 71f.; Zitat Messner).[9] Dabei „weiß“ doch der aufgeklärte Mensch, dass es eigentlich keinen „Sonnenuntergang“ gibt, sondern nur in der menschlichen Wahrnehmung.[10] Zu den anthropologischen Voraussetzungen s.  Walter Burkert, Heiliger Schauer: Biologische und philologische Blicke auf ein Phänomen der Religion: NZZ 13.09.2008 (Internetausgabe)[11] Vgl. J. Jantzen: Art. „Staunen“ in: LThK , Bd. 9, Freiburg, 3. Aufl. 1993-2001: Sp. 939-940. In diesem Artikel, obgleich in einem theologischen Lexikon stehend, wird nur die philosophische Seite des Staunens betrachtet.Der Religionsphilosoph Josef Pieper, Was heißt Philosophieren, S. 67f. schreibt zum Staunen: „Der Staunende weiß nicht nur nicht, er wird dessen inne, dass er nicht weiß; er versteht sich darin, nicht zu wissen. Dennoch ist dies nicht das Nichtwissen der Resignation. Sondern der Staunende ist einer, der sich auf den Weg begibt: … Die Freude des Staunenden ist die Freude eines Beginnenden, eines auf immer noch Neues, Unerhörtes gefassten und gespannten Geistes“ (zitiert nach W. May, Anleitungen, S. 21).[12] „Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen...“ Platon, Theaitetos, 155d (S. 52/53). Dazu E. Martens, Vom Staunen, S. 46: „Daher durchzieht das doppeldeutige Staunen als unauflösbare Spannung von Verwunderung und Bewunderung den Prozess des Philosophierens.“[13] Aristoteles, Metaphyik 982 b 12 (S. 42): „Verwunderung veranlasste zuerst wie noch jetzt die Menschen zum Philosophieren“. Dazu E. Martens, Vom Staunen, S. 59: „Die interessenlose, zweckfreie Neugier und das Staunen über die Vielfalt der Sinneswelt wird von Aristoteles von vornherein positiv als eigener Schritt des Erkennens bewertet.“[14] Vgl. E. Martens, Vom Staunen, S. 51 - 61.[15] Vgl. E. Martens, Vom Staunen, S. 73 – 84.[16] Zu Thomas von Aquin und Louis Pasteur habe ich keine Belege gefunden. Albert Einstein: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen“ (Zitiert nach Werner May, Anleitungen zum Staunen, S. 2).Dazu E. Martens, Vom Staunen, S. 84: „Das Phänomen des Staunens über eine staunenswerte Welt lässt sich … nicht zwingend als unvernünftig wegerklären. Das neugierige Staunen der Wissenschaft und Technik ist sicher häufig nützlich, es ist aber unzweifelhaft auch ein Selbstzweck als ästhetisches Staunen über eine verzauberte Welt, und es ist auch als metaphysisches oder religiöses Staunen nicht als sinnlos auzuschließen.“[17] Vgl. E. Martens, Vom Staunen, S. 123f. [18] Aus der Sicht einer dezidiert christlichen Psychologie, mit vielen Alltagsbeispielen und Übungen: Werner May, Anleitungen zum Staunen.[19] Giuseppe Galli, Psychologie der sozialen Tugenden. Wien, 20052, S. 82-93.[20] Vgl. G. Galli, Psychologie, S. 87f.[21] Vgl. G. Galli, Psychologie, S. 89f.[22] G. Galli, Psychologie, S. 90.[23] Vgl. hierzu: Reinhard Müller: Jahwe als Wettergott: Studien zur althebräischen Kultlyrik anhand ausgewählter Psalmen (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft). Berlin 2008. Müller untersucht in dieser Studie die Psalmen 18, 24, 29, 36, 48, 65, 77, 93, 97, 98 und 104.[24] Ps 104,1: „Herr, mein Gott, wie groß bist du! Du bist mit Hoheit und Pracht bekleidet.“ Ps 139,14: „Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke“ (Einheitsübersetzung).[25] Ex 15,1 (ähnlich v. 21): „Ich singe dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben, Rosse und Wagen warf er ins Meer.“[26] Ex 19,16: „Das ganze Volk, das im Lager war, erschrak“ (Text: Lutherbibel 1912; die Einheitsübersetzung übersetzt mit: „zitterte“; hebr. „wayyäch’rad“ wird von der Interlinearübersetzung Das Alte Testament, Bd. 1, Stuttgart 19892, mit „und es erbebte“ übersetzt). Dies geschieht zur Zeit des Morgengrauens (z. Zeit der Auferstehung Jesu im NT! Par.: Mt 28,2.3)!In Ex 20,18-23 (nach der Übergabe der zehn Gebote an Mose Ex 20, 1-17, die genau zwischen den hier angeführten Textstellen überliefert sind) heißt es weiter: Das Volk zitterte (hebr. „wayyenu’u“) vor Furcht und bat Mose, mit Gott zu reden (v. 20: „Da sagte Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht … Die Furcht vor ihm soll über euch kommen, damit ihr nicht sündigt.“).Im Buch der Sprichwörter 1,7 heißt es: „Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis…“Einen bemerkenswerten Kontrast zu dieser Überlieferung des Alten Testaments bietet die Gotteserfahrung des Propheten Elija am Gottesberg Horeb, der Jahwe weder im Sturm, noch im Erdbeben, noch im Feuer begegnet, sondern im „sanften, leisen Säuseln“ (1 Kön 19,11-13).[27] In den synoptischen Evangelien finden sich die griechischen Wortfelder thaumazein („staunen“), aber auch „außer sich, in Ekstase, griech. ekstasis, geraten“, sowie griech. thambein „erschrecken, staunen, sich wundern“.[28] Die folgenden Hinweise ebenso wie die zum Buch Exodus und den Hinweis auf Spr 1,7 verdanke ich Stefan Matuschek, Über das Staunen: Eine ideengeschichtliche Analyse (Studien zur deutschen Literatur). Berlin 2011 (Reprint), S. 53 – 56: Die Reaktion der Menschen auf die Wundertaten Jesu: Erstaunen und Erschrecken anlässlich des reichen Fischfangs, in Verbindung mit der Berufung des Simon Petrus (Lk 5,9); „Ekstase“ und „Verwunderung“ bei der Auferweckung der Tochter des Synagogenvorstehers Jairus (Mk 5,42; Lk 8,56); und anderen Gelegenheiten (Mt 12,23, Mk 1,27, Lk 5,26, Lk 9,43b).Gleiche Reaktionen der Menschen finden wir auch im Zusammenhang mit Jesu Lehre: Mt 7,28 (Ende der Bergpredigt); Mk 1,22 (zu Beginn seiner Verkündigung in der Synagoge zu Kafarnaum); Mk 10,24 (Reichtum und Nachfolge); Lk 2,47 (der zwölfjährige Jesus im Tempel) und Lk 4,32 (angesichts seiner Lehre).Auch Jesus selbst erstaunt: Mt 8,10, Erstaunen Jesu angesichts des Glaubens des heidnischen Hauptmanns; Mk 6,1-6a: Zunächst geraten die Menschen in der Synagoge von Nazareth außer sich (explesonto; v. 2; die Einheitsübersetzung übersetzt hier ungenau mit „staunten“), dann „wundert sich“ (Einheitsübersetzung), besser: „staunt“  (ethaumazen; Übersetzung F. Stier) Jesus über ihren Unglauben (v. 6a). Die Hinweise auf das Staunen Jesu verdanke ich W. May, Anleitungen zum Staunen, S. 46 – 50. Thomas von Aquin hat das Staunen Jesu als Hinweis auf die Menschlichkeit des Gottessohnes gewertet (ebd., S. 49; May zitiert Josef Pieper). [29] Bemerkenswert ist, dass Zacharias (etaraxthe), Maria (dietaraxthe) und die Hirten (ephobethesan) auf je unterschiedliche Weise „erschrecken“. Fridolin Stier, Das Neue Testament, München 1989, berücksichtigt dies und übersetzt bei Zacharias mit „geriet durcheinander“, bei Maria mit „erschrak sehr“, bei den Hirten mit „und Furcht überkam sie“.[30]Me phobou, Zacharia“ (1,13) bzw. „Mariam“ (1,30); bei den Hirten im Plural: „Me phobeisthe“ (2,10).[31] Stier übersetzt hier ebenfalls mit „geriet er durcheinander“.[32] In Mt 2,15 Verweis auf den Propheten Hosea (11,1): „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“.[33] „Als nun die Hohenpriester und die Schriftgelehrten die Wunder (griech. thaumasia) sahen, die er tat, und die Kinder im Tempel rufen hörten: Hosanna dem Sohn Davids!, wurden sie ärgerlich und sagten zu ihm: Hörst du, was sie rufen? Jesus antwortete ihnen: Ja, ich höre es. Habt ihr nie gelesen: Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob?“ (Mt 21,15-16). Der letzte Satz ist ein Psalmzitat (Ps 8,3), wo es weiter heißt (den weiteren Kontext muss man – so wie die Zuhörer Jesu damals – immer mit bedenken!): „… deinen Gegnern zum Trotz; deine Feinde und Widersacher müssen verstummen.“[34] Nur bei Matthäus mit der provokativen Formulierung: „wenn du Gottes Sohn bist“ (Mt 27,40.43), ansonsten bei Lukas und Markus: „wenn er der Messias Gottes ist“ (Lk 23,35) bzw. „wenn du der König der Juden bist“ (Lk 23,37; ähnlich Mk 15,32)). Die Zuschauer fordern ein letztes Wunder, „um zu sehen und zu glauben“.[35] Bei allen Synoptikern: Mt 27,45; Mk 15,33; Lk 23,44.[36] Nur bei Mt 27,51: Ich erkenne hier eine bewusst gestaltete Parallele zur Offenbarung Gottes am Sinai, Ex 19-16-18, allerdings ohne Feuer![37] Bei Matthäus nach vorhergehendem Erschrecken angesichts des Erdbebens rufen der Hauptmann und seine Leute (!) aus: „Wahrhaftig, das war Gottes  Sohn!“ (Mt 27,56). Bei Markus das Bekenntnis der Gottessohnschaft Jesu nur durch den Hauptmann (Mk 15,39). Bei Lukas ein Lobpreis Gottes durch den Hauptmann und das Bekenntnis, dass Jesus „ein gerechter Mensch“ war (Lk 23,47). [38] Mt 27,55-56; Mk 15,40-41; Lk 23,49 (griech. theorousai; bei Mk und Mt).[39] Lk 23,48. Der griechische Begriff hat „seit Platon und Aristoteles auch die spezifische Bedeutung von ‚Schau des Göttlichen‘“ (E. Martens, S. 16).[40] Mk 15,44 (griech. ethaumasen).[41] Der Vollständigkeit halber sei noch auf zwei weitere Textstellen im Neuen Testament verwiesen: Beim Pfingstereignis (Apg 2,1-13) geraten die Menschen Jerusalems ins Staunen (ethaumazon, v. 7) über das Sprachwunder.Zu Beginn des Gottesgerichts am Ende der Zeit heißt es in einem Lobgesang in der Offenbarung des Johannes (15,3): „Groß und wunderbar („erstaunlich“, thaumasta) sind deine Taten, Herr, Gott und Herrscher über die ganze Schöpfung.“[42] Dies ist keine neue Entwicklung. Bereits in der Antike reisten wohlhabende Römer als Bildungstouristen nach Griechenland und Ägypten. Selbst im Neuen Testament finden wir einen dezenten Hinweis seitens der Jünger Jesu auf den großartig gebauten Jerusalemer Tempel, woraufhin Jesus dessen Zerstörung andeutet (Mt 24,1-2; par. Mk 13,1-2; Lk 21,5-6)[43] Ich möchte an dieser Stelle hinzufügen: Mit Ausnahme der digitalen Revolution zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sind alle wesentlichen Erfindungen, die unsere Gegenwart bestimmen, bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs geschehen, danach gab es vor allem noch technische Verbesserungen.[44] Max Frisch hat es, zitiert nach G. Galli, Psychologie der sozialen Tugenden, S. 83, so formuliert: „Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es, von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das was nicht erfaßbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlaß wieder begehen – Ausgenommen wenn wir lieben.“ [45] Ähnlich sieht es Beatrice Rima, zitiert nach G. Galli, S. 92f.: „Staunen ist kein Gefühl, sondern ein Zustand der Betrachtung und ist gekennzeichnet durch die Passivität des Subjekts gegenüber einem Objekt, das ihn völlig ergreift, seine Gedanken bannt oder seinen Blick fesselt … Das Staunen ist … gekennzeichnet durch Ohnmacht oder Nichtwissen …, durch Passivität, durch ein Entrücktsein in andere Sphären. Das Staunen schwindet, wenn die Blume gepflückt ist, denn der Besitz ergreift das Objekt statt sich von ihm ergreifen zu lassen.“[46] Paulus stellt sich in den Kapiteln 9 - 11 seines Römerbriefs der Frage, warum einige (aus Juden und Heiden) zum Glauben an Jesus Christus gelangen, andere (die Mehrheit der damaligen Juden und Heiden) hingegen nicht (9,18): Gott „erbarmt sich also, wessen er will, und macht verstockt, wen er will“. Paulus erkennt darin Gottes Willen und verweist auf das Buch Exodus, wo das Herz des Pharao so lange von Gott verhärtet wurde (Ex 7,3), bis es – aus der Perspektive der Ägypter – zur Katastrophe am Rotem Meer kam bzw. – aus der Perspektive der Israeliten - zur Rettung des Volkes Gottes aus der ägyptischen Sklaverei (Ex 13,17-14,31) durch das Wirken Gottes. Diese grundlegende Erfahrung des Volkes Israel wird von den Juden bis in unsere Zeit als Pessach-Feier erinnert und ist ebenso der Rahmen des Letzten Abendmahls Jesu mit seinen Jüngern. [47] Vgl. Mt 18,1-5 (anlässlich des Rangstreits der Jünger); par. Mk 9,33-37; Lk 9,46-48. Dazu Heinrich Spaemann: „Es interessiert uns nicht das Niedliche am Kind, sondern der anfangende Mensch in seiner Offenheit.“ Gefunden bei Werner May, Anleitungen zum Staunen, S. 58.[48] Hebr 12,18-24: „Denn ihr seid nicht zu einem sichtbaren, lodernden Feuer hingetreten, zu dunklen Wolken, zu Finsternis und Sturmwind, zum Klang der Posaunen und zum Schall der Worte, bei denen die Hörer flehten, diese Stimme solle nicht weiter zu ihnen reden (v. 18f.) … Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, zu Tausenden von Engeln, zu einer festlichen Versammlung und zur Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind…“ (v. 22f.).[49] Ähnliches gilt für das Osterfest, die Feier von Tod und Auferstehung Jesu. Das verlängerte Osterwochenende kann ein jahreszeitlich günstiger Anlass zu einem Frühlingsfest sein („das Leben siegt über den Tod“) oder zu einem vertieften Staunen darüber führen, dass der immerwährend zirkulierende natürliche Kreislauf des Lebens von Werden und Sterben endgültig zum Leben hin aufgebrochen ist.[50] Die Begegnung mit einem Aussätzigen war für den Heiligen Franziskus von Assisi, der im Jahr 1223 die erste Weihnachtskrippe mit lebenden Menschen und Tieren darstellte, das Schlüsselerlebnis zu seiner Bekehrung: „…als ich in Sünden war, kam es mir sehr bitter vor, Aussätzige zu sehen. Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt“ (Testament 2.3).[51] Der Begriff der „Ehrfurcht“ ist aus dem Alltagswortschatz faktisch verschwunden und auch aus der religiösen Erziehung weitgehend verbannt worden, weil er in der Vergangenheit mit „Furcht“ und „Angst“ besetztem Skrupulantentum verbunden war. Hingegen ist der Begriff des „Respekts“, der auch in der Jugendsprache eine erhebliche Rolle spielt, ein möglicherweise gangbarer Weg, von dort aus wieder zur eigentlichen Bedeutung von „Ehrfurcht“ zu gelangen, die ein respektvolles Staunen vor dem Heiligen meint, das nicht „gestört“ werden darf.[52] Eine solche Haltung mag auf begründeten Befürchtungen resultieren, von den anderen Wissenschaften nicht ernst genommen zu werden, obgleich diese doch – historisch betrachtet - als Humanwissenschaften oft aus der Theologie entstanden sind.[53] Dieser feiert seine hohe Position in der Kirche und kreist dabei doch gerne um sich selbst. Ein wesentliches Motiv für diese Ausprägung des „Autismus“ scheint mir die Angst davor zu sein, in den Grundfesten der eigenen Überzeugungen, Gedanken und Gefühle erschüttert zu werden und alle (Schein-) Sicherheiten zu verlieren.[54] „Fundamentalismus“ ist gegenwärtig in allen bedeutenden Religionen und Konfessionen festzustellen und verhält sich, in Wort und Tat, aggressiv gegen alle Andersdenkenden in den eigenen wie fremden Religionen (Konfessionen).[55] Auch Papst Franziskus bringt im Interviewbuch „Der Name Gottes ist Barmherzigkeit“, S. 91f., die Stichworte Klerikalismus und religiöse Strenge mit dem Thema Staunen in Verbindung: „Das 23. Kapitel des Matthäus-Evangeliums spricht hier eine klare Sprache. Darauf sollten wir unseren Blick richten, wenn wir verstehen wollen, was Kirche ist und was sie niemals sein darf. Dort wird das Verhalten jener beschrieben, die schwere Bündel schnüren und sie ihren Mitmenschen aufbürden, selbst aber keinen Finger krumm machen würden. Menschen, die gerne an erster Stelle stehen, die gerne „Meister“ genannt werden. Ursprung dieser Verhaltensweisen ist das fehlende Staunen im Angesicht des Heils, das dir geschenkt wird. Wenn jemand sich ein wenig sicherer fühlt, dann fängt er an, sich Fähigkeiten zuzuschreiben, die eigentlich nicht seine sind, sondern die des Herrn. Die Verwunderung wird jeden Tag ein bisschen weniger, und das ist der Grund für diesen Klerikalismus, für die Einstellung all jener, die sich rein fühlen. Dann wird das formale Einhalten der Regeln und unserer ganzen fixen Ideen immer wichtiger. Das Staunen nimmt ab. Wir glauben, alles alleine zu schaffen, die Helden in diesem Stück zu sein. Und wenn ein solcher Mensch ein Diener Gottes ist, dann glaubt er am Ende, ein ganz anderer zu sein als das Volk, ein Herr über die Lehre, ausgestattet mit Macht, und dem Wunder Gottes verschlossen. Dieses „Schwinden des Staunens“ ist ein Ausdruck, mit dem ich sehr viel anfangen kann. Ich habe mich schon dabei überrascht, dass ich bestimmten, sehr rigiden Gläubigen gewünscht habe, sie möchten doch einmal straucheln, denn dann könnten sie sich als Sünder erkennen und Jesus wirklich begegnen.“