Dekonstruktion statt Destruktion
Dekonstruktion statt Destruktion[i]
Wozu die Kirche einen Bilbao-Effekt benötigt
Dekonstruktion
Wer schon mal einen Städtetrip nach Bilbao unternommen oder diese Stadt als Ausgangs- oder Etappenort auf seiner Pilgerreise nach Santiago de Compostela besucht hat, wird womöglich genauso von ihr beeindruckt gewesen sein wie der Verfasser. Bilbao hat es innerhalb weniger Jahre geschafft, von einer herunter gekommenen, unansehnlichen Industriestadt mit hoher Arbeitslosigkeit zu einer für Besucher wie Einheimische attraktiven Kulturmetropole mit hoher Aufenthalts- und Lebensqualität in der Innenstadt zu werden. Dies gelang wagemutigen Stadtplanern und Regionalpolitikern dadurch, dass international renommierte Architekten gewonnen werden konnten, die zum einen die Infrastruktur verbesserten. Zum anderen wurde für das Großprojekt des Guggenheim-Museums Bilbao der kanadisch-amerikanische Architekt Frank Gehry engagiert, der Mitte der 90er Jahre einen spektakulären Neubau realisierte, der bis heute nichts an Faszination verloren hat und weiterhin Scharen von Menschen anzieht. Seitdem spricht man vom „Bilbao-Effekt“, wenn man die erfolgreiche Metamorphose einer Stadt beschreiben will.[ii] Dabei ist die städtische Bausubstanz, also Kirchen und öffentliche Gebäude, Gewerbe- und Wohnimmobilien, bei Abrissen von nicht mehr rentablen Industrieanlagen und Werften, weitgehend erhalten geblieben und konnte durch nunmehr zusätzliche finanzielle Möglichkeiten renoviert und verbessert werden, um so zum positiven Gesamtbild dieser Stadt beizutragen.
Frank Gehry steht zusammen mit anderen bedeutenden Architekten unserer Zeit für die Stilrichtung des Dekonstruktivismus; dieser versteht sich als Ablösung der zur Beliebigkeit neigenden Postmoderne und ergab sich als Begriff aus dem Kontakt mit der gleichnamigen Philosophie Jacques Derridas. Unter Berücksichtigung der architektonischen Grundprinzipien Ästhetik, Funktion und Tektonik wird auf einfache geometrische Grundformen (Würfel, Kugel, Pyramide usf.) zurückgegriffen und diese in einer Weise wieder zusammengebracht, dass sich ungewöhnliche und für den Betrachter völlig neue Sichtweisen ergeben, die zu eigenem kreativen Denken und Handeln auch im Umfeld ermuntern. Dekonstruktivismus bedeutet somit nicht primär Destruktion, setzt diese aber (zumindest teilweise) voraus, um ungewohnt Neues entstehen lassen zu können.
Das Beispiel Jesu
„Dekonstruktion“ finden wir auch im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu wieder. Radikal stellte er den jüdischen Religionsbetrieb am Jerusalemer Tempel mit seinem Ritualismus in Frage; dies kostete ihn schließlich das Leben („Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten“; Joh 2,19). Ebenso radikalisierte er mit seiner Bergpredigt die konventionelle Ethik seiner Zeit („Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“; Mt 5,20). Dabei verzichtete er darauf, seine Anhänger zelotisch zu radikalisieren und warnte sie immer wieder vor Gewalttaten (z.B. Lk 9,51-56; gegen die ungastlichen Samariter); stattdessen verkündete und praktizierte er selber radikale Gewaltlosigkeit, zuletzt bei seiner Verhaftung im Garten Getsemani (Mt 26,52 par.).
Die in der damaligen Verfasstheit der jüdischen Religion Etablierten (Hohepriester und Schriftgelehrte) verstanden Jesu Auftreten zurecht als substanzielle Gefährdung ihres Selbstverständnisses und versuchten ihn mit der Vernichtung seiner physischen Existenz zu beseitigen („Destruktion“). Als Christen glauben wir, dass Gott ihn aber nicht im Tod beließ, sondern ihn in seiner Auferstehung zum neuen Leben auferweckte („Dekonstruktion“[iii]). Damit wurde eine radikal neue Wirklichkeit möglich, die in der Verkündigung der Jünger und dem Entstehen der Kirche ihren historischen Anfang nahm.
Ein Bilbao-Effekt für die Kirche[iv]
Die Krisensymptome der gegenwärtigen kirchlichen Situation sind schon zu oft beschrieben worden, um sie hier ausführlich zu wiederholen:
Es gibt einen substanziellen Mangel an theologisch ausgebildetem Nachwuchs in kirchlichen Berufen. Bald werden die Einnahmen aus der Kirchensteuer deutlich sinken. Die Auswirkungen des Missbrauchsskandals werden uns auch in den kommenden Jahren beschäftigen. Wenn die Generation der jetzt über 80jährigen endgültig „abgetreten“ ist, wird auch die „Volkskirche“ tot sein.
Ferner wäre auch mal grundsätzlich die Frage zu stellen, ob unsere Gottesdienstpraxis nicht viel zu oft unnötig ritualisiert und inhaltsarm daher kommt, sowohl was den Vollzug der heiligen Handlungen als auch die Wortverkündigung und die Kirchenmusik angeht. Ähnliches gilt für den Bereich der Ethik: Sind wir nicht viel zu sehr der heutigen bürgerlichen Durchschnittsmoral angepasst, um noch als Sauerteig in der Gesellschaft wirken zu können? Stattdessen versucht man dem immer deutlicher und zeitlich näher kommenden völligen Relevanzverlust der Kirche für die Gesellschaft[v] mit immer neuen „Angeboten“ für Gläubige und Interessierte entgegen zu wirken; dies, wie mir scheint, viel zu oft mit der Fragestellung und eigentlichen Absicht verbunden: Was muss sich ändern, damit alles bleiben kann, wie es ist?
Ich bin fest davon überzeugt, dass es im „Weiter so“ keinen Weg mehr gibt, ebenso wenig wie im „romantischen“ Rückgriff auf verblichene Formen von Kirche-Sein. Stattdessen braucht es für die Kirche einen „Bilbao-Effekt“ durch „Dekonstruktion“.
Welche Bedingungen könnten als Grundlage für eine neue Gestalt von Kirche dienen?
1. Abschied von der Dienstleistungskirche
Gottseidank (!) werden wir schon bald nicht mehr in der Lage sein, die Vielzahl der kirchlichen Dienstleistungen „von der Wiege bis zur Bahre“ durch hauptamtliche „bezahlte Knechte“ (Joh 10,11-16) aufrecht zu erhalten. Stattdessen wird die aufopferungsvolle Dienstbereitschaft aller Gläubigen, bezahlter wie unbezahlter, im Geist der Fußwaschung des Herrn (Joh, 13,1-20) umso notwendiger sein, damit die Kirche (wieder) zum Sauerteig unserer Gesellschaft wird.
2. „Empowerment“ der Getauften
Eine hauptsächliche Aufgabe aller pastoralen Dienste für die kommenden Jahre wird es sein, die verbliebenen Gläubigen in den Gemeinden darin zu bestärken, selber zu leben und zu lieben, zu glauben und zu hoffen, zu arbeiten und (Gottesdienst) zu feiern (zu beten) nach dem Vorbild und im Geist Jesu Christi. Es wird somit immer wichtiger werden, die Gläubigen zu befähigen und zu begleiten, zu ermuntern und eigenständiges Handeln zu ermöglichen, ohne dem Kontrollwahn zu erliegen oder Ängste zu pflegen, selber dadurch überflüssig zu werden.
Eine Orientierungshilfe werden dabei die Seligpreisungen der Bergpredigt sein (können), die Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben „Gaudete et exsultate“ vom April 2018 in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen zum heiligen Leben der Christen stellt (Abschnitt 3). Wir sollten uns endlich von dem Gedanken verabschieden, dass die Seligpreisungen (und die ganze Bergpredigt) nur für die Lebenspraxis von „Extremchristen“ gedacht sind.
3. Dekonstruktion statt Destruktion
Von den noch Engagierten in den Gemeinden wird gegenwärtig vor allem der Verlust von Heimat beklagt, weil Kirchen und Pfarrheime schließen, Seelsorgeräume immer größer werden und althergebrachte Gruppierungen sterben. Dekonstruktion wird in diesem Zusammenhang auch bedeuten, zwar nicht „Sterbehilfe,“, wohl aber „Sterbebegleitung“ zu leisten, damit auf dem Boden der dann verschwundenen Sozialformen der früheren Volkskirche etwas ungeahnt Neues entstehen kann, ohne die neuen Ausdrucksformen von Kirchesein bereits zu präjudizieren.
Eine alternative Form, die in der Weltkirche bereits häufig praktiziert wird und die auf Grunderfahrungen des Christseins aus der Taufwürde basiert, ist die Etablierung von Nachbarschaftsgruppen („Basisgemeinden“) im christlichen Geist. Hier zeigt sich das Konzept der Dekonstruktion, angewandt auf das Leben der Gläubigen vor Ort: Ein altes Konstrukt, das nicht mehr hinreichend funktioniert, wird „auseinandergenommen“ und in Teilen vielleicht auch „zerstört“ („destruiert“), um dann unter Verwendung von alten wie neuen Elementen kreativ wieder „zusammengefügt“ („dekonstruiert“) zu werden.
Käme es dabei zum „Bilbao-Effekt“ (der allerdings nicht zwangsläufig eintreten muss!), wäre ein erneuertes, „aufgefrischtes“ Weiterleben auch der alten Formen neben den neuen Formen wie im heutigen Stadtbild von Bilbao auch in der Kirche möglich; dieses dürfte sich aber keine gegenseitige Konkurrenz machen, behindern oder stören. Vielmehr würde dem Heiligen Geist im Wortsinne „Raum“ verschafft und sich ungeahnte Perspektiven eröffnen, ihn zu entdecken. Ferner würde damit allen suchenden Menschen die Möglichkeit geboten, den Gekreuzigt-Auferstandenen in ihrem eigenen Leben zu erfahren, besonders aber im Leben der anderen, der Leidenden, Ausgegrenzten und Verachteten (Mt 25,31-46). Die Kirche käme damit ihrem Auftrag zur Verkündigung des Herrn auf neue Weise nach, anstatt sich – wie momentan zu häufig geschehend – vorwiegend mit sich selbst zu beschäftigen.
Eine veränderte Gestalt von Kirche, die sich von den Maßstäben konventioneller Moral und der Praxis sinnentleerter Rituale sowie von Machtgehabe gründlich verabschiedet, um sich erneut am radikalen Vorbild ihres Herrn und Meisters zu orientieren und zu „dekonstruieren“, wird auch in Deutschland noch in der Lage sein, einen „Bilbao-Effekt“ zu erzielen. Viel Zeit dazu verbleibt allerdings m.E. nicht mehr.
[i] Dieser Aufsatz entstand in der Osterzeit 2018. Erstmals veröffentlicht im Anzeiger für die Seelsorge 1/2019, 30-32. [ii] Natürlich gab es auch Widerstände gegen die Projekte von solchen, die meinten, man solle öffentliches Geld besser in die Modernisierung der alten Industrieanlagen stecken sowie von Kritikern der sog. Gentrifizierung von Innenstädten.[iii] Dogmatiker mögen mir diese Begrifflichkeit verzeihen; ich finde sie nicht völlig unpassend, zumal nach biblischem Zeugnis der Auferstehungsleib Jesu ja nicht als identisch mit dem irdischen Leib des Herrn anzusehen ist, sondern als eine völlig neue Wirklichkeit, die ihren Bezug zur alten Wirklichkeit des irdischen Jesus beibehält (z.B. seine Stimme, Joh 20,16, und seine Wundmale, Joh 20,25.27).[iv] Ich beziehe mich hierbei ausschließlich auf die katholische Kirche im deutschen Sprachraum.[v] Der französische Publizist Henri Tincq hat im April 2018 für die katholische Kirche in Frankreich einen umfassenden gesellschaftlichen Relevanzverlust beschrieben, den ich in den kommenden Jahren auch bei uns für möglich halte: http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/publizist-beklagt-ruckzug-des-katholizismus. Ähnlich konstatiert der Corriere della Sera für die katholische Kirche in Italien trotz der Präsenz von Papst Franziskus „praktische Irrelevanz“: https://www.domradio.de/themen/weltkirche/2018-04-29/zeitung-italiens-politik-fehlt-die-stimme-der-kirche