Entklerikalisierung

Entklerikalisierung -
Ein Überlebensprogramm für die Ecclesia Sancta

Zwei Fallbeispiele
Ein Priester wird versetzt, ohne dass für ihn ein Nachfolger in Aussicht steht. Mitglieder einer kleinen Ortsgemeinde innerhalb eines Großbereichs, in der dieser bei einigen besonders beliebt ist, protestieren nicht nur gegen diese Versetzung, sondern stellen gleichzeitig fest, dass sie keinerlei von „außen“ an sie herangetragenen Veränderungen wünschen, außer dass ihnen der beliebte Priester „erhalten“ bleibe.
Diese bewusst grob skizzierte Situation zeigt in geradezu klassischer Manier auf, worin Klerikalismus von Priestern wie Gläubigen besteht: Das Aufs-Podest-Heben eines „Heiligen Mannes“, von dessen Dienst alle für die Gläubigen segensreichen Handlungen erwartet werden, durch eine oft besonders fromme Gruppe; umgekehrt das Sich-Hinauf-Heben-Lassen des Betreffenden, um sich im Glanz einer besonderen sozialen Stellung und der vermeintlich gegebenen Machtfülle über die Herzen der Gläubigen sonnen zu können, verbunden mit dem Gefühl, „gebraucht“ zu werden. Dass dies mit einer (vielleicht sogar vorsätzlichen) Selbst-Entmündigung der Getauften und Gefirmten einher geht, liegt auf der Hand, wird aber von den Beteiligten übersehen oder ignoriert bzw. in Kauf genommen, da man auf diese Weise über den Mann auf dem Podest umgekehrt ebenfalls eine Form von Kontrolle und ggf. Zwang auszuüben vermag.
Eine andere Episode: Bei der Einweihungsfeier eines kirchlichen Gebäudes sprach mich ein mir unbekannt gebliebener mittelalter Mann mit „Hochwürden“ an. Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihm zu antworten, wenn er eine ernsthafte Antwort von mir wolle, möge er diese Anrede fortan unterlassen. Zu einem weiteren Gespräch kam es nicht mehr.
 
Die Diagnose von Papst Franziskus
„Corruptio optimi, quae est pessima“ - “Die Verderbnis des Besten ist das Schlimmste!“ (Papst Gregor dem Großen zugeschrieben).
Seit Beginn seines Pontifikats hat sich Papst Franziskus mit ebensolcher Vehemenz wie Klarheit immer wieder gegen den verbreiteten Klerikalismus in der Katholischen Kirche gewandt. Auch für die zahlreichen Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche nimmt er diesen in Mitverantwortung, etwa in seinem Schreiben an das Volk Gottes vom 20. August 2018:
„Der Klerikalismus, sei er nun von den Priestern selbst oder von den Laien gefördert, erzeugt eine Spaltung im Leib der Kirche, die dazu anstiftet und beiträgt, viele der Übel, die wir heute beklagen, weiterlaufen zu lassen. Zum Missbrauch Nein zu sagen, heißt zu jeder Form von Klerikalismus mit Nachdruck Nein zu sagen.“

Klerikalismus überall
Klerikalismus ist zum einen ein individuelles Phänomen bei vereinzelten Priestern und den sie verehrenden Gläubigen, verbunden mit der (gegenseitig gepflegten) Illusion, diese bräuchten mich (persönlich, nicht meinen Dienst!), um selig werden zu können. Dabei ist es vielleicht doch eher umgekehrt so, dass ich die anderen (miss-) brauche, um hier auf Erden selig leben zu können. An dieser Stelle möchte ich klarstellen, dass auch ich persönlich nicht frei von dieser Art Klerikalismus bin, denn es schmeichelt mir, mit dem Gefühl zu leben, gebraucht zu werden und Einfluss zu haben!
Klerikalismus ist darüber hinaus ein Gruppenphänomen innerhalb einer Priesterschaft, die davon überzeugt ist, aufgrund ihrer Weihe etwas Besonderes zu sein („ontologische Differenz“ zu den Getauften und Gefirmten), nicht selten gefördert im Rahmen der Ausbildung und, als Presbyterium um den Bischof vereint, eine „Ersatzfamilie“ mit eigener Kleiderordnung darzustellen. In diesem sich selbst schützenden Geflecht liegt es auf der Hand, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Damit darf es aber auch keine Fehlertoleranz selbst im Kleinen geben und wird fast zwangsläufig ein Unschuldswahn gepflegt, der dann nur noch ggf. unter dem Beichtgeheimnis (innerhalb der Priestergruppe!) durchbrochen wird.
Es gibt nach meiner Beobachtung mindestens noch drei weitere „Zwischenebenen“ im kirchlichen Leben, die die bekannte Spaltung des Kirchenvolkes in „Kleriker und Laien“ für den deutschsprachigen Raum zwar ein wenig „aufweicht“, aber die Problemlage nicht mindert:
- Klerikalismus von pastoralen Diensten, die gerne mehr Anteil am kirchlichen Machtgefüge hätten und sich ebenfalls für unersetzbar halten.
- Klerikalismus in kirchlichen Verwaltungen, die viel Energie für Selbsterhalt und Selbstschutz aufbringen und sich dabei kaum von anderen gesellschaftlich relativ geschlossenen Systemen wie Polizei, Militär oder weltlichen Behörden unterscheiden.
- Klerikalismus bei angestellten Mitarbeitern und engagierten Laien, die sich insbesondere im liturgischen Bereich daran erfreuen, eine wichtige „Rolle“ etwa als Lektoren oder Kommunionhelfer übernehmen zu dürfen. Auch in gewählten Gremien lässt sich dieser bei engagierten Getauften und Gefirmten finden, wenn das Bedürfnis nach persönlicher Einflussnahme vorrangiger ist als die sachlichen Themen.
 
Kommunikation
Mit dem Aufkommen des Internets und der sozialen Medien war einst die Hoffnung verbunden, die Welt könnte sich demokratischer und sozialer entwickeln. Zwar ist die Menge an für viele verfügbaren Informationen ins schier Unermessliche gewachsen, damit aber auch deren Unübersichtlichkeit und die Unmöglichkeit, diese alle nach Gewicht und Wahrheitsgehalt zu sortieren. Daraus folgt, dass der Kampf um die Meinungshoheit unabhängig von der Wahrheitsfrage im Internet ausgefochten wird.
Der katholischen Kirche ebenso wie anderen eher „trägen“ Institutionen bis hin zu Regierungen ist vorgeworfen worden, die Tragweite der modernen sozialen Medien bis heute kaum erkannt geschweige denn genutzt zu haben. Dem gegenüber ist festzuhalten, dass bessere technische Kommunikation nicht automatisch zu mehr Wahrheitsgehalt, größerer Authentizität oder einem tatsächlichen Kulturwandel führt, der vom Geist Jesu Christi geprägt ist.
 
Was tun?
Es tut ausgesprochen weh anschauen zu müssen, was der Klerikalismus bis in unsere Tage Menschen, dem Leib Christi, der Kirche aus lebendigen Steinen, antut. Dass dieser sogar eine potenziell tödliche Gefahr für die Ecclesia Sancta darstellt, wird uns aktuell fast täglich vor Augen geführt.  Darum möchte ich hier ein paar Gedanken äußern, die vielleicht als ein Programm zur Entklerikalisierung dazu beitragen können, dieses von Papst Franziskus als ein Grundübel innerhalb der Kirche identifizierte Phänomen, das wohl mit der klassischen Todsünde der „Superbia“ in Relation gesetzt werden kann, zu überwinden oder wenigstens einzudämmen.

1.    Evangelisierung der Welt
Einen wirklichen Kulturwandel im Geist Jesu Christi werden wir nur bewirken können, wenn wir entgegen aller Defensive und Resignation, in die wir uns schon seit längerem hinein gedrängt fühlen, die Mauern unserer Angst und Abwehr hinter uns lassen und zu den Menschen in den Straßen unserer Städte und Ortschaften hinaus gehen.
Kommunikation im Sinne Jesu Christi wird darauf bedacht sein, Augenhöhe zu gewinnen, indem auf Belehrung und Besserwisserei, Spezialsprache und Showelemente verzichtet wird. Dies sollte uns zukünftig von allen anderen christlichen wie nichtchristlichen Bewegungen und elitären Gruppierungen unterscheiden. Dies Art von Kommunikation wird im Sinne des Philosophen Jürgen Habermas ein „herrschaftsfreier Diskurs“ sein müssen, an einer christlich geprägten Vernunft orientiert, wie sie immer wieder in den Schriften von Papst Benedikt XVI. / Joseph Ratzinger aufleuchtet, dabei gerade nicht um sich selbst kreisend, sondern offen für das Wehen des Heiligen Geistes besonders auch bei denen, die uns zunächst fremd sind.
 
2.    Sprachgewinnung
Der Kampf um die Meinungshoheit wird heute vor allem in den sozialen Medien ausgefochten. Hier muss die Katholische Kirche zu einem Hort der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit werden, jenseits der Verbreitung von „fake news“ und beliebiger, emotionalisierter Stimmungsmache, die das Denken der Menschen zerrüttet. Daher ist es um der Wahrheit willen so unverzichtbar, auch auf alle Fakten hinsichtlich des innerkirchlichen Missbrauchs zu schauen und diese offenzulegen (Joh 8,32: „Die Wahrheit wird euch frei machen“, auch vom Klerikalismus!)
Wenn wir von der Mehrheit unserer Zeitgenossen wieder ernst genommen werden wollen, müssen wir uns darum bemühen, die Gute Nachricht in einer Sprache zu vermitteln, die dem Niveau von Kinderkatechesen entwachsen ist. Auch dies ist m.E. eine Form von Missbrauch, da sie zum einen ignoriert, dass Jesus den Erwachsenen gepredigt und die Kinder gesegnet hat (und nicht umgekehrt!), und zum anderen bei entsprechender Fokussierung verhindert, dass erwachsene Fragen an den Glauben gestellt werden (könnten).
Aufrichtige Glaubenskommunikation lädt die Menschen zum religiösen wie theologischen Nachdenken ein und ist damit in der Lage, die weit verbreitete auch religiöse Konsumorientierung wie den religiösen Analphabetismus unserer Zeit und Gesellschaft wenigstens ein bisschen in Richtung Denken zu korrigieren (Mut zum Denken!).
 
3.    Echtheit und Gastfreundschaft
Wir sind keine Werbeträger, auch wenn wir aus tiefer Überzeugung für unseren Glauben werben wollen (und sollen!). In einer Zeit, in der hochfahrende Populisten, die sich gelegentlich auf ihre christliche Prägung berufen und verängstigte Menschen wie „besorgte Bürger“ für sich einfangen, in immer mehr Ländern an Einfluss gewinnen, können wir als Christen nur ein Gegenprogramm aufsetzen, das aus dem Bewusstsein unserer eigenen Arm-Seligkeit im Sinne der Seligpreisungen (Mt 5,3) gespeist ist. Allein schon mit solch einer Haltung kann jeglicher persönliche Klerikalismus überwunden werden.
Die Gastfreundschaft in unseren Gemeinden und Gemeinschaften – m.E. ein besserer Begriff als „Willkommenskultur“ -, aus der heraus schon Engel bewirtet wurden (vgl. Hebr 13,2), wird, in Verbindung mit einer wirksamen Achtsamkeit für alle Schutzbedürftigen (Kinder und Jugendliche, Kranke und Behinderte, Traumatisierte und Flüchtlinge, Arbeitsmigranten und gesundheitlich eingeschränkte Senior/innen) einen weiteren sichtbaren Kontrast darstellen in einer Zeit, in der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mitten durch Europa erneut Mauern hochgezogen und Todeszonen definiert werden.
 
4.    Hierarchie anstelle von Klerikalismus
Der gelegentlich in die Überlegungen zum Pastoralen Zukunftsweg der Diözesen eingeführte Partizipationsbegriff, der die Teilhabe von Nicht-Klerikern an kirchlichen Aufgaben beschreibt, besitzt nach meiner vorläufigen Wahrnehmung ebenfalls die Versuchung zum oben beschriebenen Klerikalismus, immer dann, wenn man anfängt, über Machtfragen in der Kirche zu diskutieren und Teilhabe an dieser vermuteten „Macht“ einzufordern. Hier lädt der stets notwendige Verweis auf Mt 20,20-28 par. (die Söhne des Zebedäus wollen die besten Plätze im Reich Jesu) zur innerkirchlichen Umkehr und wirksamen Buße ein. Jesus Christus lädt uns nicht dazu ein, an seiner „Machtfülle“ Anteil zu erhalten, sondern ausschließlich in seine Kreuzesnachfolge!
Ein vertieftes Bewusstsein dafür, dass alle kirchlichen Ämter und Beauftragungen allein von Gott selber kommen und allein dem Wohl des Volkes Gottes dienen sollen/dürfen, kann dazu beitragen, den Klerikalismus zu überwinden. Hier darf mal wieder darauf hingewiesen werden, was „Hierarchie“ eigentlich bedeutet, nämlich „heilige Herrschaft“ im Bewusstsein der Rückbindung (lateinisch „religio“) an das Schöpferwort Gottes, von dem alles seinen Anfang nahm (Gen 1,1; Joh 1,1; griechisch „en arch“). Klerikalismus von Klerikern wie Nicht-Klerikern verhindert diese stets notwendige Rückbesinnung auf den Ursprung jeglichen Amtes und Auftrags in der Kirche.
Möge Gott uns beistehen, die Aufgabe der Entklerikalisierung der Ecclesia Sancta zu bewältigen!