Die eigentliche babylonische Gefangenschaft der Kirche

 
Machtverlust oder Bedeutungsverlust – Gedanken zu einer Re-Formation der Kirche in Deutschland[1]
 
Vor einigen Jahren behauptete ich in einem Interview mit einer lokalen Tageszeitung, dass unsere Kirchengemeinde ein „kultureller, sozialer und spiritueller Faktor in unserer Stadt“ sei. Zusätzlich hätte ich auch ergänzen können: ein „wirtschaftlicher Faktor“ in der Größe eines mittelständischen Betriebs. Heute bedaure ich diese Äußerungen, obwohl es damals keinerlei Kritik an meiner Feststellung gab und aus der Kerngemeinde sogar Lob für das Herausstellen der kommunalen Bedeutung unserer Pfarrei.
 
In-Frage-Stellung
„Nimmt man Gewissheiten ernst, so töten sie das Herz und fesseln die Phantasie“, so hat es der Theologe und Zivilisationskritiker Ivan Illich einmal auf den Punkt gebracht.[2] Zu den uns lieb gewonnenen „Gewissheiten“, mit denen wir allesamt aufgewachsen sind, so dass wir die damit verbundenen Selbstverständlichkeiten wie Gefahren gar nicht mehr bemerken, gehört das Verständnis der Kirche als einer für unser Land und seine Menschen unverzichtbaren „Dienstleistungsgesellschaft“, „von der Wiege (beginnend mit der Taufe) bis zur Bahre“ (kirchliche Beisetzung), in all ihren spirituellen, kulturellen und sozialen Vollzügen.[3] Im Zeitalter der fortgeschrittenen Dienstleistungsgesellschaften scheint es noch weniger möglich oder sinnvoll zu sein, alternative Modelle zu denken, geschweige denn, sie auszusprechen, ohne sich und die Kirche, durch die sich das Mysterium Gottes in dieser Welt mitteilt (Lumen Gentium), in Verruf zu bringen oder der Lächerlichkeit preiszugeben (oder auch sich intern einem Häresieverdacht auszusetzen). Vielleicht hilft zur Darstellung der Problematik zunächst eine pointierte Analyse.
 
Einige Zeichen der Zeit
1.    Immer weniger junge Menschen, egal welcher Konfession, sind - trotz intensiver Werbekampagnen - bereit, Theologie zu studieren mit dem Ziel, einen kirchlichen Beruf zu ergreifen.
2.    Immer mehr Erwachsene in jedem Lebensalter sind religiöse Analphabeten (geworden), weil sie – trotz jahrelanger intensiver Belehrung durch Religionsunterricht, Katechese und Verkündigung – niemals eine persönliche religiöse Sprache entwickelt haben.
3.    Der Bürokratieaufwand in der Kirche bleibt enorm und weitet sich eher noch aus, trotz der unzweifelhaft segensreichen Einstellung von fähigen Verwaltungsleitern in den Gemeinden. Hier wie auch woanders bewahrheitet sich das „Parkinsonsche Gesetz“ der sich selbst ausweitenden, erhaltenden und ernährenden Bürokratien. Für die eigentliche Aufgabe der Seelsorger, den Menschen nah zu sein und mit ihnen das mysterium fidei zu feiern, bleibt wenig Raum und Zeit. Daher ist es auch kein Zufall, dass nicht wenige der in den Gemeinden verbliebenen pastoralen Kräfte davon träumen, in einem Sonderbereich zu arbeiten, der mehr Unmittelbarkeit zu den Menschen verspricht, wohingegen andere sich mit gleichsam erotischer Hingabe weiter den Verwaltungsaufgaben widmen, denn Papier erscheint geduldiger als Menschen.
4.    Die Wahrnehmung und Inanspruchnahme von Kirche durch die Gesellschaft und ihre Menschen erhält immer mehr Eventcharakter. Das Auftreten kirchlicher Vertreter in altertümlich anmutender Dienstkleidung zu kirchlichen wie gesellschaftlichen Anlässen wird von Kritikern wie Fernstehenden als karnevalesk empfunden.
5.    Im kulturellen Sektor braucht es keine dezidiert religiösen Künstler, um z.B. künstlerisch hochwertige Glasfenster für eine Kathedrale zu entwerfen. Ebenso wenig braucht es religiös inspirierte Musiker, um z.B. eine Mozart-Messe mit hoher Qualität „aufzuführen“.
6.    Viele der „klassischen“ Ordensgemeinschaften, die die Spiritualität des „christlichen Abendlandes“ geprägt haben, werden nicht nur immer kleiner, sondern sind in den kommenden Jahren vom Aussterben bedroht.

Die eigentliche „babylonische Gefangenschaft der Kirche“
Im Jahr 1520 erstellte Martin Luther auf Latein seine Streitschrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“, in der er die katholische Lehre von der Siebenzahl der Sakramente infrage stellte. Meines Erachtens hat Luther mit seiner Titelwahl danebengegriffen, insofern besonders die Kirchen der Reformation mithilfe ihrer Gründergestalten in eine tatsächliche Form babylonischer Gefangenschaft gerieten: ihre Selbstauslieferung an die staatliche Obrigkeit, um mit deren Rückhalt und im Zusammenspiel mit ihr die jeweilige – bei unserer Betrachtung: deutsche -  Gesellschaft mitzuprägen. In weniger starkem Ausmaß gilt diese Beobachtung für die katholische Kirche in Deutschland zwischen dem Ende der napoleonischen Kriege und dem Ende des Zweiten Weltkriegs (Zeit nach der Säkularisation, des Kulturkampfs und seiner Nachwirkungen). Aber spätestens mit der Gründung der Bundesrepublik hat sich auch die katholische Kirche auf eine Form des „Zusammenspiels“ mit Staat und Gesellschaft eingelassen, die ich als eigentliche babylonische Gefangenschaft der Kirche bezeichnen möchte:
Die Vielfalt an gegenseitigen Verquickungen, Verpflichtungen und Verbindungen („Sozialpartnerschaft“), sicherlich zum Wohle vieler und zum Schutz der Institutionen und ihrer darin Wirkenden gedacht, fesselt letztlich alle Beteiligten, führt zu deren geistiger wie persönlicher Immobilität, falschen Kompromissen und Abhängigkeiten sowie zu bürokratischer Fixierung und Ressourcenbindung an falscher Stelle. Institutionellem wie persönlichem Machtmissbrauch sind die Tore damit weit geöffnet.
Trotz, wohl eher: wegen ihrer nach wie vor bestehenden gesellschaftlichen Macht und ihrer engen Verquickung mit den gesellschaftlichen (staatlichen) Institutionen – erleidet die Kirche einen zunehmenden Bedeutungsverlust bei den Menschen, aus der unsere sich (wohl unaufhaltsam) weiter säkularisierende Gesellschaft besteht, wie oben gesehen. Damit stellen sich m.E. nur noch zwei Alternativen:
 
Machtverlust oder Bedeutungsverlust
 
Die fortgesetzte Weigerung von verantwortlichen Christen auf allen Ebenen kirchlichen Lebens, sich dem Machtverlust der Kirche in unserer Gesellschaft zu stellen, ihn als gegeben anzunehmen und die daraus sich ergebenden Veränderungen positiv zu gestalten, wird ihren Bedeutungsverlust nicht aufhalten, sondern beschleunigen. Sie wird dazu führen, dass ihre Vertreter sich der Kritik des HERRN selbst ausgesetzt sehen müssen, der angesichts der Bewunderung seiner Jünger für die Pracht des Jerusalemer Tempels dessen Zerstörung ankündigte (Lk 21,5f. par.) und den Vergleich mit Grabmälern anstellte, hinter denen die Verwesung lauert (Mt 23,27f.): „Eure Gerechtigkeit muss weit größer sein als die der Schriftgelehrten und Pharisäer“ (sinngemäß nach Mt 5,20).
Fortwährende Imitation der und Beihilfe zur gegenwärtigen Eventkultur (egal ob im Bereich der „Hochkultur“ oder der Populärkultur) wird die Kirche weiter ins Abseits führen, da bei den Konsumenten in der Regel keine Tiefenwirkung jenseits von Gefühlsaufwallungen zu erzielen ist.
Für den umfangreichen sozialen Bereich kirchlicher Tätigkeiten – unabhängig von der Trägerschaft (Bistümer, Caritas, Kirchengemeinden und Ordensgemeinschaften) – wird es m.E. geboten sein, Umwandlungen der Einrichtungen in gemeinnützige GmbHs vorzunehmen, die nur noch ideell, aber nicht mehr strukturell mit der Kirche verbunden sein werden.
Im geistlichen Leben der Kirche wird eine Konzentration auf die schlichte Feier des mysterium fidei geboten sein und auch völlig ausreichen, damit sie sich immer wieder (so schon Augustinus) von der Kirche Kains (der Kirche der Macht und des Machtmissbrauchs) zur Kirche Abels (der Kirche an der Seite der Opfer, die sich selbst als Opfer darbringt und zum Opfer wird; vgl. 1. Eucharistisches Hochgebet) re-formiert.

Gastfreundschaft als Schlüssel zur Erneuerung
Wenn wir etwas von den Christen in den armen Kirchen lernen können (wollten), dann ist dies wirkliche (für uns Mitteleuropäer oft beschämende) Gastfreundschaft und tätige unmittelbare Hilfe anstelle von Eventkultur und bürokratisierter „Nächstenliebe“, die nur zu Konsum und weiteren Abhängigkeiten führen. Was uns Not tut anstelle von weiterem Ausbau kirchlicher Institutionen ist das Wieder-Erlernen von zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit ebenso wie in unserer persönlichen Beziehung zu Gott. Das damit einhergehende Eingeständnis von persönlicher wie institutioneller Ohnmacht könnte vielleicht sogar irgendwann wieder zum Bedeutungsgewinn führen, und wenn nicht, wäre dies auch nicht weiter schlimm, sondern ein wirksames Zeichen für das Kreuz Christi in unserer Zeit. Oder wie es beim Propheten Zefanja (3,12f.) als Verheißung angekündigt wird:
„Und ich lasse in deiner Mitte übrig ein demütiges und armes Volk. Sie werden Zuflucht suchen beim Namen des HERRN.“
Noch ein letzter Gedanke, auch wenn das „argumentum ex auctoritate“, wie ich im Philosophiestudium lernte, das Schlechteste ist: Papst Benedikt XVI. hat bei seinem Deutschlandbesuch im September 2011 bei seiner Rede im Freiburger Konzerthaus[4] – wie ich meine - ähnliche Vorstellungen formuliert, nur viel feiner und tiefsinniger in Gedanken und Sprache als ich dazu in der Lage bin. Es lohnt sich, diese Rede aus dem Vergessen hervorzuholen, sie zu lesen und darüber in Austausch zu treten, gerade weil sie anscheinend nur wenig rezipiert wurde.


[1] Der Text entstand wenige Tage vor dem 500-jährigen Reformationsjubiläum im Ende Oktober 2017.[2] Illich, Ivan, Klarstellungen, S. 11.[3] Ausführlich dazu: Reiner Nieswandt, „Abschied vom Konsumchristentum“, Pastoralblatt 3/2017, 73-75. Ebenso in: Hans Waldenfels, Wann, wenn nicht jetzt. Papst Franziskus. Weckrufe an die Kirche, 165 – 171.[4] In: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 189, S. 145-151.